Und immer wieder Liebe Roman
Vorwürfen wie meine Freunde und Freundinnen, Exmänner und Exliebhaber, die mich in besserwisserischer Manier traktieren, weil sie davon überzeugt sind, dass ich mich auf dem Gebiet der Gefühle nicht nennenswert weiterentwickelt habe. Dabei ist es noch viel einfacher: Ich habe mit dem Thema abgeschlossen. Zehn Monate nach meiner Flucht nach Lappland sind Übelkeit und Unpässlichkeiten passé, und wenn ich doch einmal traurig bin, nehme ich einen Roman zur Hand. Mit realen Liebesgeschichten muss ich mich nicht mehr herumschlagen.
Ich bin eine Frau, die angekommen ist.
Der Staubwedel wandert über »Behausungen der Liebe« – Himmelbetten und Hotels, die den Schauplatz für solide Ehen und verbotene Irrungen und Wirrungen abgegeben haben: die »kleine, aber feine zweigeschossige Villa mit dem halbkreisförmigen Tor« von Marguerite Gaultier, das »Vestibül mit dem bunten Marmorboden« des Geschäftemachers Dambreuse, die »mit unbehandeltem Tannenholz ausgekleidete Hütte«, wo D. H. Lawrence’ Connie wartet und wartet und wartet, die Londoner Häuser von Thomas Carlyle in Chelsea und von John Keats in Hampstead. Während der Möbelmesse, die zurzeit stattfindet, habe ich nur wenige davon verkauft; wer weiß, vielleicht verlieben sich Schreiner und Designer nicht. Nur noch wenige Minuten bis zehn, gerade Zeit genug für eine Tasse Tee bei den Zitruspflanzen.
Ich steige die Treppe hoch und bin stolz auf die mönchische Ordnung, mit der Tische und Regale aufgestellt sind. Zwischen den Seiten von Ballades d’amour à Paris (ein Einzelexemplar in
Originalsprache, das ich bei einem Pariser Kollegen erworben habe) steckt ein neongelbes Zettelchen. Ich hasse es, wenn man Bücher misshandelt, aber ich verdanke es meiner eigenen Duldsamkeit, dass die Leute sich hier so benehmen, als wären sie zu Hause. Irgendjemand hat seine Spuren hinterlassen, aber wenigstens kein Eselsohr in die Seiten gemacht. Vorsichtig, um das Papier nicht einzureißen, ziehe ich den Klebezettel ab. In grüner Schrift stehen ein Name und eine Telefonnummer darauf. Dieser Name. Möglich?
Möglich.
»Ich habe dir eine Focaccina mitgebracht, sie ist noch warm. Soll ich sie dir hochbringen?«
Alices Gesicht ist von der Morgengymnastik gerötet, ihre feuchten Haare riechen nach Vanillebalsam.
»Danke. Ich räume noch den Rest auf und komme dann runter. Offne du schon einmal, es ist bereits spät.«
Ich sitze seit zwanzig Minuten auf dem Stuhl und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Ein Scherz, eine zufällige Übereinstimmung, ein Vorkommnis ohne jede Bedeutung. Federico ist ein verbreiteter Name. In der Schublade suche ich nach dem Taschenrechner, den mir Mattia zu Weihnachten geschenkt hat, einem unbenutzten radieschenroten Spielzeug mit gelben Tasten, die an Mantelknöpfe erinnern. Er funktioniert. Einunddreißig mal zwölf mal zweiundfünfzig mal dreihundertfünfundsechzig mal vierundzwanzig, das macht einunddreißig Jahre, dreihundertzweiundsiebzig Monate, eintausendsechshundert Wochen, elftausenddreihundert Tage. Vor zweihunderteinundsiebzigtausendsechshundert Stunden habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Ungefähr. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört, und sogar im Gespräch mit Gabriella, der einzigen Zeugin dieser Geschichte,
ist das Thema auf den Buchstaben G. zusammengeschrumpft. Grober Irrtum.
Oder Gefühle.
Was oft miteinander einhergeht.
Diese Nummer zu wählen, wäre, wie sich auf ein speed date einzulassen, jene grauenhaften Verabredungen aufs Geratewohl, bei denen du dich innerhalb weniger Minuten entscheiden musst, ob du mit jemandem ins Bett gehen willst. Bei der Geschichte mit Federico ging es nie in erster Linie um Sex. Er ist Hals über Kopf aus meinem Leben verschwunden, wurde in aller Eile begraben und ist vor wenigen Minuten wieder hinter den Schulbänken aufgetaucht.
Man muss kein Drama daraus machen.
Ab einem gewissen Alter ist es statistisch möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass sich unter den mehr als sechs Milliarden Erdenbewohnern ein Exfreund bei einem meldet, als wäre nichts gewesen. Irritierend ist nur – falls es sich nicht doch um einen Namensvetter handelt -, dass er genau in dem Moment auftaucht, in dem die Vergangenheit gut verpackt ist und ich strahlend in das Paradies meiner neuen Altjungfernschaft eingezogen bin. Ich habe meinen Laden, und die Bücher beschützen mich vor allem, was draußen lauert.
Nur dass seit heute er es ist, der draußen lauert.
Nach
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