Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Schuhspitze. Er legte sich einen Finger auf die Lippen und nickte zu meiner Mutter. Ich drehte mich nach ihr um. Sie schlief, den Mantel eng um sich geschlungen. Jonas war nicht da. Ich riss den Kopf herum, hielt Ausschau nach meinem Bruder. Andrius gab mir noch einen Tritt und deutete zum Ausgang.
Ich stand auf und ging zwischen den menschlichen Bündeln zur Tür des Waggons. Dort stand Jonas. Er hielt sich am Rand fest. »Andrius hat gesagt, dass vor einer Stunde ein langer Zug eingefahren ist. Irgendjemand hat ihm erzählt, dass lauter Männer darin sind«, flüsterte Jonas. »Vielleicht ist Papa dabei.«
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte ich Andrius.
»Ist doch egal«, erwiderte er. »Komm, wir suchen unsere Väter.«
Ich warf einen Blick nach draußen. Die Sonne war gerade am Horizont aufgetaucht. Wenn Papa wirklich hier am Bahnhof war, musste ich ihn finden.
»Ich steige aus und berichte euch dann, was ich in Erfahrung gebracht habe«, sagte ich. »Wo steht der neu eingefahrene Zug?«
»Neben uns. Aber du bleibst hier«, sagte Andrius. »Ich übernehme das.«
»Wie willst du meinen Vater finden? Du weißt doch gar nicht, wie er aussieht«, fauchte ich.
»Bist du immer so reizend?«, fragte Andrius.
»Vielleicht könnt ihr beide gehen«, schlug Jonas vor.
»Ich schaffe das allein«, sagte ich. »Ich finde Papa und bringe ihn zu unserem Waggon.«
»Ist doch lächerlich. Wir vergeuden nur Zeit. Ich hätte dich nicht wecken sollen«, sagte Andrius.
Ich warf wieder einen Blick aus dem Waggon. Die Wachmänner standen gut dreißig Meter weit weg und kehrten uns den Rücken zu. Ich schwang mich über die Türschwelle, sprang leise auf den Bahnsteig und kroch unter den Zug. Andrius folgte mir. Dann hörten wir einen leisen Schrei und sahen, wie Jonas aus dem Waggon sprang. Andrius schnappte ihn, und wir versteckten uns hinter einem Rad. Wir sahen, wie ein Wachmann stehen blieb und sich umdrehte.
Ich legte Jonas eine Hand auf den Mund. Wir drückten uns noch dichter an das Rad, wagten kaum zu atmen. Schließlich ging der Wachmann weiter.
Andrius krabbelte zur anderen Seite und sah sich um. Dann winkte er uns. Ich kroch unter dem Waggon hervor. Diese Seite trug eine russische Aufschrift.
»Diebe und Huren«, flüsterte Andrius. »Das steht da.«
Diebe und Huren. In diesem Waggon befanden sich unsere Mütter, eine Lehrerin, eine Bibliothekarin, ältere Menschen und ein Neugeborenes – Diebe und Huren. Jonas betrachtete die Schrift. Ich ergriff seine Hand und war froh, dass er kein Russisch konnte. Wäre er doch nur im Waggon geblieben.
Auf dem Nachbargleis stand noch ein Zug, der aus roten Viehwaggons bestand. Aber die Türen waren mit schweren Riegeln verschlossen. Wir sahen uns um und huschten dann unter den Zug, wobei wir dem Dreck zwischen den Gleisen auswichen. Andrius klopfte neben dem Abortloch gegen den Boden. Ein Schatten erschien.
»Wie heißt dein Vater?«, fragte Andrius.
»Kostas Vilkas«, antwortete ich sofort.
»Wir suchen Petras Arvydas und Kostas Vilkas«, flüsterte er.
Der Kopf verschwand. Wir hörten Schritte über uns auf dem Boden des Waggons. Dann tauchte der Kopf wieder auf. »In diesem Waggon sind sie nicht. Seid ja vorsichtig, Kinder. Ihr müsst mucksmäuschenstill sein.«
Wir liefen von Waggon zu Waggon, wichen den Kothaufen aus und klopften. Immer, wenn ein Kopf verschwand, krampfte sich mein Magen zusammen. »Bitte, bitte, bitte«, sagte Jonas. Nachdem man uns Grüße an Angehörige oder Mahnungen zur Vorsicht mit auf den Weg gegeben hatte, liefen wir weiter. Wir kamen zum siebten Waggon. Der Kopf des Mannes verschwand. Drinnen herrschte Stille. »Bitte, bitte, bitte«, flehte Jonas.
»Jonas?«
»Papa!«, sagten wir mit mühsam unterdrückter Aufregung. Ein Streichholz wurde auf einem Brett angerissen. Papas Gesicht erschien im Loch. Er war grau im Gesicht, und ein Auge war geschwollen.
»Wir sind da drüben in einem Waggon, Papa«, begann Jonas. »Komm mit.«
»Pssst …«, sagte Papa. »Ich kann nicht. Ihr dürftet gar nicht hier sein. Wo ist eure Mutter?«
»Im Waggon«, antwortete ich glücklich, obwohl ich wegen seines geschundenen Gesichts entsetzt war. »Geht es dir gut?«
»Alles in Ordnung«, antwortete er. »Seid ihr wohlauf? Und eure Mutter?«
»Uns geht es gut«, sagte ich.
»Mutter weiß nicht, dass wir hier sind«, sagte Jonas. »Wir wollten dich suchen. Sie sind in unser Haus eingebrochen, Papa, und …«
»Ich weiß. Sie werden unsere Züge
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