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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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aneinanderkoppeln.«
    »Wohin bringen sie uns?«, fragte ich.
    »Nach Sibirien, glaube ich.«
    Sibirien? Das konnte nicht sein. Sibirien war eine halbe Weltreise weit weg. In Sibirien gab es nichts. Ich hörte, wie Papa im Waggon mit jemandem sprach. Dann reichte er uns ein Bündel durch das Loch.
    »Nehmt diese Jacke und die Strümpfe. Ihr werdet sie brauchen.« Drinnen ertönte noch mehr Lärm. Papa reichte uns eine zweite Jacke, zwei Hemden und weitere Strümpfe. Schließlich gab er uns ein großes Stück Schinken.
    »Teilt das auf, Kinder. Esst es«, sagte Papa.
    Ich zögerte und starrte den Schinken an, denn mein Vater hatte ihn durch das Loch gesteckt, das die Männer für ihre Notdurft benutzten.
    »Ihr müsst ihn sofort essen!«, sagte er.
    Ich riss das dicke Schinkenstück in vier Teile. Zwei gab ich Jonas und Andrius, eines steckte ich für Mutter in die Tasche meines Kleides.
    »Gib das hier deiner Mutter, Lina. Richte ihr aus, dass sie ihn bei Bedarf verkaufen soll.« Papa reichte mir seinen goldenen Ehering. Ich starrte ihn an.
    »Hast du gehört, Lina? Falls sie Geld braucht.«
    Ich hätte ihm gern gesagt, dass wir für Jonas schon eine Taschenuhr hergegeben hatten. Ich nickte und schob den Ring auf einen Daumen. Der Kloß in meinem Hals war so dick, dass ich den Schinken nicht schlucken konnte.
    »Ist Petras Arvydas in Ihrem Waggon, mein Herr?«, fragte Andrius.
    »Nein, tut mir leid«, antwortete Papa. »Ihr seid in großer Gefahr. Ihr müsst alle wieder in euren Waggon.«
    Ich nickte.
    »Jonas?«
    »Ja, Papa?«, sagte Jonas und sah zum Loch auf.
    »Es ist sehr tapfer von dir, dass du gekommen bist. Ihr müsst zusammenbleiben. Ich weiß, dass du gut auf deine Schwester und deine Mutter aufpassen wirst, solange ich fort bin.«
    »Das werde ich, Papa. Ich verspreche es«, sagte Jonas. »Wann sehen wir dich wieder?«
    Papa verstummte kurz. »Ich weiß es nicht. Hoffentlich bald.«
    Ich umklammerte das Kleiderbündel. Tränen liefen über meine Wangen.
    »Weine nicht, Lina. Kopf hoch«, sagte Papa. »Du kannst mir helfen.«
    Ich sah zu ihm auf.
    »Verstehst du?« Mein Vater blickte zögernd zu Andrius. »Du kannst mir helfen, euch zu finden«, flüsterte er. »Ich werde wissen, dass du es bist … so wie man ein Bild von Munch erkennt. Aber du musst sehr vorsichtig sein.«
    »Aber …«, stammelte ich.
    »Ich liebe euch beide. Sagt eurer Mutter, dass ich sie liebe. Sagt ihr, dass sie an die Eiche denken soll. Sprecht eure Gebete, Kinder. Ich werde sie hören. Betet für Litauen. Und jetzt ab mit euch. Schnell!«
    Meine Brust schmerzte, und meine Augen brannten. Ich lief los, kam aber ins Stolpern.
    Andrius fing mich auf. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Er sah besorgt und mitfühlend aus.
    »Es geht schon«, sagte ich, wischte über meine Augen und löste mich aus seinem Griff. »Komm, jetzt suchen wir deinen Vater.«
    »Nein. Ihr wisst doch, was er gesagt hat. Lauft so schnell wie möglich zurück. Und richtet eurer Mutter seine Worte aus.«
    »Und dein Vater?«, fragte ich.
    »Ich klappere noch ein paar Waggons ab. Ich stoße später wieder zu euch«, sagte er. »Geht zurück, Lina. Ihr vergeudet hier nur eure Zeit.«
    Ich zögerte.
    »Hast du Angst, allein zurückzugehen?«
    »Nein! Ich habe keine Angst«, antwortete ich. »Mein Vater hat zwar gesagt, wir sollen zusammenbleiben, aber dann gehen wir eben allein.« Ich packte Jonas’ Hand. »Wir kommen auch ohne ihn zurecht, Jonas. Nicht wahr?«
    Jonas stolperte neben mir her und sah ein letztes Mal über die Schulter zu Andrius.

12
    Halt !«, befahl jemand.
    Wir waren schon fast unter unserem Waggon. NKWD-Stiefel stapften auf uns zu. Ich verbarg den Daumen mit Papas Ehering in meiner Faust.
    »Dawai!«, brüllte der Mann.
    Jonas und ich kamen unter dem Waggon hervor.
    »Lina! Jonas!«, schrie Mutter, die sich aus der Tür beugte.
    Der Mann richtete das Gewehr auf Mutter, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann umkreiste er uns. Seine Stiefel kamen mit jedem Schritt näher.
    Jonas drückte sich an mich. Ich ballte die Faust, damit man Papas Ehering nicht entdeckte. »Wir haben ein paar Sachen aus dem Abortloch fallen lassen«, log ich und reckte das Kleiderbündel. Mutter übersetzte meine Worte für die Wache ins Russische.
    Der Mann betrachtete die Strümpfe oben auf dem Bündel. Er packte Jonas und durchsuchte seine Taschen. Ich dachte an den Schinken in meinem Kleid. Wie sollte ich das erklären, wo doch alle so hungrig waren? Der Mann stieß uns

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