Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
Vom Netzwerk:
ein, die immer noch nicht trinken wollte und violett angelaufen war.
    Stunden vergingen. Andrius kam nicht wieder. Mutter setzte sich neben mich. »Wie sah dein Vater aus?«, fragte sie, strich meine Zöpfe glatt und legte einen Arm um meine Schultern.
    »Ganz gut«, log ich. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter. »Wohin bringen sie uns? Liegt es wirklich daran, dass Papa an der Universität ist? Das ergibt doch keinen Sinn.«
    Der Glatzkopf stöhnte.
    »Er zum Beispiel«, flüsterte ich. »Er ist kein Lehrer, sondern nur ein Briefmarkensammler, und er wird deportiert«, sagte ich.
    »Er sammelt nicht nur Briefmarken«, hauchte Mutter. »Ganz bestimmt nicht. Dazu weiß er zu viel.«
    »Was weiß er denn?«
    Mutter seufzte und schüttelte den Kopf. »Stalin hat einen Plan, mein Schatz. Und der Kreml wird alles tun, damit er in die Tat umgesetzt wird. Stalin will, dass Litauen zu Russland gehört, und deshalb lässt er uns vorübergehend wegbringen.«
    »Aber warum uns?«, fragte ich. »Die Sowjets sind doch schon im letzten Jahr in Litauen einmarschiert. Reicht das nicht?«
    »Wir sind nicht die Einzigen, mein Schatz. In Estland, Lettland und Finnland passiert vermutlich das Gleiche. Die Sache ist kompliziert«, sagte Mutter. »Ruh dich aus.«
    Ich war erschöpft, fand aber keinen Schlaf. Ich fragte mich, ob meine Cousine Joana auch in einem der Züge war. Papa hatte gesagt, ich könnte ihm helfen, aber wie sollte das gehen, wenn wir nach Sibirien fuhren? Als ich einnickte, dachte ich an Andrius und versuchte, mir sein Gesicht vorzustellen.
Als ich an dem Bild vorbeiging, blieb ich ruckartig stehen. Das Gesicht. So etwas Bezauberndes hatte ich noch nie gesehen. Es war das Kohleporträt eines jungen Mannes. Seine Mundwinkel zeigten nach oben, als würde er lächeln, aber sein schmerzerfülltes Gesicht trieb mir Tränen in die Augen. Die feinen Schattierungen seines Haares gingen sanft ineinander über, wirkten aber gleichzeitig sehr ausgeprägt. Ich trat näher. Makellos. Wie bekam man so feine Übergänge hin, ohne den Stift abzusetzen oder Fingerabdrücke zu hinterlassen? Wer war der Künstler, und wer war dieser junge Mann? Ich suchte die Signatur. Munch.
»Bitte bleiben Sie bei Ihrer Gruppe, junge Dame. Das Bild gehört zu einer anderen Ausstellung«, sagte unser Führer.
Einige Schüler hatten im Vorfeld gemeckert. Wie konnte man über einen Ausflug in das Museum meckern? Ich hatte mich seit Monaten darauf gefreut.
Die Schuhe des Museumsführers klackten auf den Fliesen. Ich ging weiter, aber mein Blick klebte an dem Bild, an dem Gesicht. Ich rieb meine Finger. Mit federleichter Hand gezeichnet, ja, aber auch sehr präzise. Ich brannte darauf, es selbst auszuprobieren.
Ich setzte mich in meinem Schlafzimmer an den Tisch. Ich spürte, wie die Zeichenkohle leicht vibrierte, während ich sie über das Blatt zog. Das Geräusch, das dabei entstand, ließ mir einen Schauder über den Rücken laufen. Ich biss auf meine Unterlippe. Ich fuhr mit dem Mittelfinger am Rand entlang, damit der Strich weicher wirkte. Die Zeichnung gelang mir recht gut.
    Ich malte seinen Namen mit dem Finger in den Dreck. Munch. Ich würde seine Werke überall erkennen. Und Papa würde meine Zeichnungen erkennen. So hatte er das gemeint. Er würde mich anhand der Spur meiner Zeichnungen finden.

14
    Beim Erwachen war der Waggon dunkel. Ich ging nach vorn und steckte den Kopf aus der Tür, weil ich frische Luft brauchte. Meine Haare fielen in meinen Nacken, und ein Luftzug umwirbelte mein Gesicht. Ich atmete tief durch. Da knirschte der Schotter. Ich erschrak, weil ich einen Wachmann erwartete. Aber da war niemand. Dann knirschten noch einmal Schritte. Ich bückte mich tief und schaute unter den Waggon. Eine dunkle Gestalt kauerte hinter dem Rad. Ich blinzelte, versuchte, sie im Zwielicht zu erkennen. Eine blutige, zitternde Hand wurde mir entgegengereckt. Ich zuckte zurück, noch bevor ich begriff.
    Andrius.
    Ich drehte mich zu Mutter um. Ihre Augen waren zu, und sie hatte die Arme um Jonas gelegt. Ich warf einen Blick zum Bahnsteig. Die NKWD-Männer waren zwei Waggons weiter, sie kehrten uns den Rücken zu. Das kleine Mädchen mit der Puppe hockte neben der Tür. Ich legte einen Finger auf meine Lippen. Sie nickte. Dann glitt ich so leise wie möglich aus dem Waggon. Bei der Erinnerung an den Wachmann, der das Gewehr auf mich gerichtet hatte, hämmerte mein Herz.
    Ich kroch zu Andrius, verharrte aber plötzlich, weil ein Lastwagen vorbeifuhr.

Weitere Kostenlose Bücher