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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Dann wird er merken, wie das ist. Er könnte einen Arzt für uns rufen!«
    »Denk daran, was dein Vater gesagt hätte, Lina. Wenn wir Unrecht erdulden, gibt uns das nicht das Recht, selbst etwas Unrechtes zu tun. Das weißt du.«
    Ich dachte an Papa. Es stimmte – er hätte etwas Ähnliches gesagt.
    Jonas kam in die Jurte. »Wie geht es ihr?«, fragte er.
    Ich fühlte Mutters Stirn. »Sie hat immer noch hohes Fieber.«
    »Mein Schatz«, sagte Mutter zu Jonas. »Ich friere so. Frierst du auch?«
    Jonas zog seinen Mantel aus und gab ihn mir. Dann legte er sich neben Mutter und nahm sie in den Arm. »Deck uns mit dem Mantel zu. Und hol das kleine Fell von Uljuschka«, sagte er.
    »Uljuschka«, murmelte Mutter voller Zuneigung.
    »Ich wärme dich, Mutter«, sagte Jonas und küsste sie auf die Wange.
    »Es geht mir schon besser«, sagte sie.

79
    Ich übte Russisch. Arzt . Medizin . Mutter . Bitte . Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich packte den Stein. Ich hörte Andrius’ Worte: Hab keine Angst. Diesen Gefallen darfst du ihnen nicht tun, Lina.
    Es betraf nicht nur Mutter. Herr Lukas war krank. Janinas Mutter war krank. Wenn ich nur Medikamente auftreiben könnte. Ich hasste den Gedanken, darum bitten zu müssen. Der NKWD hatte Papa ermordet. Dafür hasste ich diese Leute. Ich durfte nicht zulassen, dass sie Mutter das Gleiche antaten.
    Ich sah Kretzky, der mit Iwanow in der Nähe der NKWD-Unterkünfte stand. Da ich allein mit Kretzky reden wollte, wartete ich. Die Zeit verging. Ich musste arbeiten, um meine Brotration zu bekommen. Also stapfte ich durch den Schnee auf die beiden zu.
    »Schau mal, ein Ferkelchen«, spottete Iwanow.
    »Meine Mutter ist krank«, sagte ich.
    »Ach, wirklich?«, erwiderte er mit geheuchelter Anteilnahme. »Ich glaube, ich weiß, was ihr helfen könnte.«
    Ich starrte ihn an.
    »Viel Sonnenschein, frisches Obst und reichlich Gemüse.« Er lachte über seinen dreckigen Witz.
    »Wir brauchen einen Arzt. Und Medikamente«, sagte ich zitternd.
    »Was sonst noch? Ein Badehaus? Eine Schule? Dann fang mal an zu bauen. Dawai! «
    Ich sah zu Kretzky.
    »Bitte helfen Sie mir. Wir brauchen einen Arzt. Wir brauchen Medikamente. Meine Mutter ist krank.«
    »Hier gibt es keinen Arzt«, erwiderte Kretzky.
    »Medikamente«, flehte ich. »Wir brauchen Medikamente.«
    »Soll ich dir noch einmal zwanzig Jahre aufbrummen?«, brüllte Iwanow. »Kein Problem! Heute bekommst du kein Brot, undankbare Göre. An die Arbeit! Dawai! «
    Kein Arzt und keine Medikamente. Ich hatte meine Brotration verspielt und war dabei auch noch gedemütigt worden. Ich entfernte mich von den Backsteingebäuden. Wie fühlte sich die Sonne auf dem Gesicht an? Ich wusste es nicht mehr. Wenn ich die Augen schloss, hatte ich die Sonne Litauens vor Augen, sah vor mir, wie sie auf Andrius’ Haar spielte. Wie sie auf der Laptewsee glitzerte, konnte ich mir im Gegensatz dazu nicht vorstellen. Hätten wir noch Kraft, wenn wir diesen Winter überlebten? Könnten wir tatsächlich Badehaus und Schule bauen? Wäre noch jemand am Leben, der uns unterrichten konnte?
    Ich durfte Mutter nicht verlieren. Ich würde kämpfen. Alles für sie tun, egal was es mich kostete. Sie zitterte, versank im Schlaf und tauchte dann kurz darauf aus. Jonas und ich wärmten und trösteten sie abwechselnd. Frau Rimas erhitzte Backsteine für ihre Füße. Janina sammelte die Läuse aus ihren Wimpern.
    Der Glatzkopf schob seine Brotration in Mutters Hand. »Na komm, Weib. Du hast Schlimmeres überstanden. Du musst für deine Kinder sorgen, Herrgott noch mal«, sagte er.
    Stunden vergingen. Mutter klapperte mit den Zähnen. Ihre Lippen wurden blau.
    »J-Jonas, nimm dies an dich.« Sie gab ihm Papas Ehering. »Er steckt voller Liebe. Nichts ist wichtiger.«
    Mutter zitterte immer stärker. Sie wimmerte zwischen den Atemzügen. »Bitte«, hauchte sie und sah uns flehentlich an. »Kostas.«
    Sie lag zwischen uns, und wir schlangen die Arme um ihren ausgemergelten Körper.
    Jonas atmete hektisch. Seine verängstigten Augen suchten meinen Blick. »Nein«, flüsterte er. »Bitte nicht.«

80
    Der fünfte Januar. Jonas hielt Mutter während der einsamen Morgenstunden und wiegte sie sanft, wie sie es immer mit uns getan hatte. Frau Rimas versuchte, sie zu füttern und die Durchblutung in ihren Beinen durch Massagen anzuregen. Mutter brachte kein Wort hervor und konnte auch nichts essen. Ich erhitzte immer wieder Backsteine, saß neben ihr, rieb ihre Hände und erzählte ihr

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