Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Nerven.
Kleinkinder siechten dahin. Mutter brachte ihre Ration einem kranken Jungen, doch er war schon tot. Er streckte die Hand aus, als würde er auf ein Stück Brot warten. Im Lager gab es weder Krankenschwester noch Arzt, nur einen Tierarzt aus Estland. Wir setzten unsere Hoffnung in ihn, und er half nach Kräften, aber die Lebensbedingungen waren zu unhygienisch, und er hatte keine Medikamente.
Iwanow und die anderen NKWD-Männer betraten unsere Jurten nicht. Sie brüllten, wir sollten die Toten vor die Tür legen. »Ihr seid dreckige Schweine. Ihr lebt im Dreck. Kein Wunder, dass ihr krepiert.«
Ruhr, Typhus und Skorbut breiteten sich im Lager aus. Läuse mästeten sich an schwärenden Wunden. Eines Nachmittags musste ein Finne während des Holzhackens austreten. Als Janina ihn fand, hing er an einem Pfosten. Er hatte sich mit einem Fischernetz erhängt.
Wir mussten immer weiter hinaus, um noch Holz zu finden. Schließlich waren wir fünf Kilometer vom Lager entfernt. Gegen Abend klammerte sich Janina an meinen Mantel.
»Liale hat mir etwas gezeigt«, sagte sie.
»Was denn?«, fragte ich und steckte Zweige ein, die ich als Anmachholz und Pinsel brauchte.
Janina sah sich um. »Komm mit. Ich zeige es dir.«
Sie ergriff meine Hand und führte mich tief in den Schnee. Dann zeigte sie mit ihrem Fäustling auf etwas.
»Was ist da?« Ich suchte den Schnee mit Blicken ab.
»Pssst …« Sie zog mich weiter.
Da erblickte ich sie – eine große Eule, die ich wegen ihres weißen Gefieders übersehen hatte. Sie war fast einen halben Meter lang, Kopf und Oberkörper waren braun gesprenkelt.
»Schläft sie?«, fragte Janina.
»Ich glaube, sie ist tot«, antwortete ich, zog einen Stock aus der Tasche und stieß gegen einen Flügel. Die Eule regte sich nicht. »Ja, sie ist tot.«
»Ob wir sie essen können?«, wollte Janina wissen.
Zuerst war ich entsetzt. Dann stellte ich mir vor, dass die Eule wie ein Hühnchen im Ofen briet. Ich bestupste sie noch einmal mit dem Stock. Dann packte ich einen Flügel. Sie war schwer, ließ sich aber ziehen.
»Nein! Wenn du sie ziehst, fällt sie dem NKWD auf, und man nimmt sie uns weg«, sagte Janina. »Du musst sie unter deinem Mantel verstecken.«
»Die Eule ist riesig, Janina. Sie passt nicht unter meinen Mantel.« Bei dem Gedanken an eine tote Eule unter dem Mantel bekam ich eine Gänsehaut.
»Aber ich bin so hungrig«, rief Janina. »Bitte! Ich gehe vor dir her. Dann merkt niemand etwas.«
Ich war auch hungrig. Genau wie Mutter und Jonas. Ich bog der Eule die Flügel auf den Bauch. Sie war schon steif, und ihr Schnabel war bedrohlich scharf. Konnte ich sie wirklich gegen meinen Bauch drücken? Ich sah zu Janina. Sie nickte mit großen Augen.
Ich schaute mich um. »Knöpf meinen Mantel auf«, sagte ich, und sie machte sich mit ihren kleinen Händen an die Arbeit.
Dann presste ich den toten Raubvogel gegen meine Brust. Wellen der Abscheu durchliefen meinen Körper. »Schnell. Knöpf ihn wieder zu!«
Aber Janina schaffte es nicht. Die Eule war so groß, dass sie unter meinem Mantel keinen Platz hatte.
»Dreh sie um, damit man das Gesicht nicht sieht«, riet Janina. »Der Schnee tarnt sie. Komm schnell.«
Schnell? Wie sollte ich fünf Kilometer mit einer Eule laufen, die meinen Mantel ausbeulte, als wäre ich schwanger, ohne dass der NKWD etwas merkte? »Langsamer, Janina. Ich kann nicht so schnell. Sie ist zu groß.« Der Schnabel bohrte sich in meine Brust, und der tote Körper war mir unheimlich. Aber da ich so ausgehungert war, hielt ich durch.
Andere Deportierte starrten mich an.
»Unsere Mütter sind krank. Sie brauchen etwas zu essen. Helft ihr uns?«, fragte Janina.
Unbekannte Menschen bildeten einen Kreis und verbargen mich vor neugierigen Blicken. Sie begleiteten uns bis zur Jurte, ohne dass der NKWD etwas merkte. Sie verlangten keinen Lohn. Sie waren froh, jemandem helfen zu können, irgendetwas zu schaffen, obwohl sie nichts davon hatten. Uns war etwas Unmögliches gelungen, und mir wurde bewusst, dass wir bessere Chancen hatten, wenn wir uns gegenseitig unterstützten.
Janinas Mutter rupfte die Eule, und wir scharten uns um den provisorischen Ofen, um den Bratenduft zu schnuppern.
»Riecht wie Ente, findet ihr nicht auch?«, fragte Jonas. »Tun wir einfach so, als wäre es Ente.«
Das warme Fleisch schmeckte himmlisch. Es war etwas zäh, aber das machte nichts, ganz im Gegenteil, denn wir mussten länger kauen und hatten auch länger etwas davon.
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