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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Wir fühlten uns wie bei einem fürstlichen Bankett.
    »Schmeckt ihr nicht auch die Stachelbeermarinade?«, seufzte Frau Rimas.
    »Herrlich. Vielen Dank, Lina«, sagte Mutter.
    »Du musst dich bei Janina bedanken. Sie hat die Eule entdeckt«, erwiderte ich.
    »Liale hat sie entdeckt«, berichtigte Janina.
    »Danke, Janina!«, sagte Jonas.
    Janina strahlte. Sie hielt ein Büschel Federn.

78
    Dann kam Weihnachten. Wir hatten die Hälfte des Winters überstanden. Dafür konnten wir dankbar sein.
    Das Wetter blieb erbarmungslos. Ein Sturm folgte dem anderen. Wir lebten wie Pinguine, froren unter Schichten aus Eis und Schnee. Als Frau Rimas vor der Bäckerei stand, brach sie bei dem Duft nach Butter und Kakao in Tränen aus. Der NKWD ließ Kuchen und Torten backen, aß Fisch, trank heißen Kaffee und labte sich an amerikanischen Konserven mit Fleisch und Gemüse. Nach dem Essen spielten die Männer Karten, rauchten Zigaretten, manchmal eine Zigarre, und tranken Branntwein. Dann entfachten sie die Feuer in ihren Backsteinunterkünften und schlüpften unter eine Pelzdecke.
    Meine Zeichnungen wurden kleiner, denn ich hatte kaum noch Papier. Mutter war schwach. Sie hatte so lange gelegen, dass sie sich nicht einmal mehr aufrichten konnte, um an der Weihnachtsfeier teilzunehmen. Ihre Haare waren bretthart gefroren. Sie dämmerte vor sich hin und erwachte nur, wenn sie merkte, dass wir in der Nähe waren. Dann warf sie uns eine Kusshand zu.
    Die Läuse brachten Typhus. Der Lange wurde krank. Er bestand darauf, unsere Jurte zu verlassen.
    »Ihr seid alle so nett. Es wäre zu gefährlich für euch. Zu gefährlich«, sagte er.
    »Ja, raus mit dir«, sagte der Glatzkopf.
    Der Lange zog in eine Jurte, in der Leute mit den gleichen Symptomen hausten – Fieber, Ausschlag, Delirium. Frau Rimas und ich stützten ihn auf dem Weg.
    Vier Tage später sah ich seine nackte Leiche auf einem Berg von Toten. Die Augen standen weit offen, eine erfrorene Hand fehlte. Polarfüchse hatten seinen Bauch aufgerissen. Seine Eingeweide lagen bloß, das Blut färbte den Schnee rot.
    Ich wandte mich ab und bedeckte die Augen.
»Bitte nimm die Bücher vom Tisch, Lina«, sagte Mutter. »Ich ertrage diese furchtbaren Bilder nicht. Schon gar nicht beim Frühstück.«
»Aber das hat Munch inspiriert. Für ihn waren es keine Bilder des Todes, sondern der Geburt.«
»Weg damit«, wiederholte Mutter.
Papa lachte leise hinter seiner Zeitung.
»Hör mal, was Munch gesagt hat, Papa.«
Papa senkte die Zeitung.
Ich blätterte zurück. »Er hat gesagt: ›Blumen werden aus meinem verwesenden Leib erblühen, und ich werde in ihnen enthalten sein, und das ist die Ewigkeit.‹ Klingt das nicht wunderbar?«
Papa lächelte mich an. »Ich finde dich wunderbar, weil du die Sache so siehst.«
»Bitte nimm die Bücher vom Tisch, Lina«, sagte Mutter.
Papa zwinkerte mir zu.
    »Wir müssen etwas unternehmen!«, schrie ich Jonas und Frau Rimas an. »Wir dürfen die Leute nicht wie die Fliegen sterben lassen.«
    »Wir tun unser Möglichstes. Mehr geht nicht«, erwiderte Frau Rimas. »Und wir beten für ein Wunder.«
    »Nein! Hören Sie auf, so zu reden. Wir werden überleben«, sagte ich. »Meinst du nicht auch, Jonas?«
    Jonas nickte.
    »Geht es dir gut?«, fragte ich.
    »Alles bestens«, antwortete er.
    An diesem Abend bettete ich Mutters Kopf in meinen Schoß. Läuse zogen im Triumphmarsch über ihre Stirn. Ich schnippte sie weg.
    »Hast du dich entschuldigt?«, fragte Mutter, die mich mit trübem Blick anschaute.
    »Bei wem?«
    »Bei Nikolai. Du hast ihm deinen Hass ins Gesicht geschrien.«
    »Ja, ich hasse ihn«, sagte ich. »Er könnte uns helfen, aber er will nicht.«
    »Er hat mir geholfen«, erwiderte Mutter leise.
    Ich sah auf sie hinab.
    »Als ich damals der mürrischen Frau entgegengegangen bin, die aus dem Dorf zurückkam, war es schon dunkel. Ein paar NKWD-Leute kamen vorbei. Sie bedrängten mich und hoben mein Kleid. Dann kam Nikolai. Er verscheuchte seine Kameraden und nahm mich in seinem Wagen mit. Ich bat ihn, sich nach eurem Vater zu erkundigen. Wir haben dann noch die mürrische Frau aufgelesen. Nikolai ließ uns drei Kilometer vor dem Lager aussteigen. Wir sind zu Fuß gelaufen. Weißt du«, sagte sie und hob den Kopf, »das hat mir gutgetan. Aber der Kommandant hat offenbar Wind davon bekommen. Er hat Nikolai dafür bestraft. Darum ist er hier, glaube ich.«
    »Er hat es verdient, hier zu sein. Vielleicht wird er krank, und niemand kümmert sich um ihn.

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