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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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schaute. Kopf hoch, Lina , sagte er. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich die Wucht von Erschöpfung und Trauer. Trotzdem war ich hellwach. Meine Gedanken warfen Funken wie bei einem Kurzschluss, erzeugten nicht enden wollende Bilder von Zorn, Furcht und Trauer.
    Woher wusste Kretzky von Papas Tod? Da musste ein Irrtum vorliegen. Es war nicht Papa, sondern ein anderer Mann. Das konnte doch sein, nicht wahr? Ich dachte daran, wie Andrius die Waggons nach seinem Vater abgesucht hatte. Er hatte auch an einen Irrtum geglaubt. Ich hätte Andrius gern erzählt, was passiert war. Ich schob eine Hand in die Tasche und umklammerte den Stein.
    Meine Zeichnungen hatten ihren Zweck nicht erfüllt. Ich hatte versagt.
    Ich wollte zeichnen, aber es klappte nicht. Wenn ich den Stift ansetzte, bewegte er sich wie von selbst, angetrieben von etwas Grauenhaftem, das in mir hauste. Papa verzog das Gesicht wie in Todesqualen. Blanke Furcht sprach aus seinen Augen. Ich zeichnete mich, wie ich Kretzky anschrie. Meine Lippen waren verzerrt. Drei schwarze, zischende Schlangen fuhren aus meinem Mund. Ich versteckte die Zeichnungen in Dombey und Sohn .
    Papa war stark. Er war ein Patriot. Hatte er sich gewehrt? Oder war er ahnungslos gewesen? Hatte man ihn wie Ona im Dreck liegen lassen? Ob Jonas sich die gleichen Fragen stellte? Wir sprachen nicht darüber. Ich schrieb Andrius einen Brief, aber Tränen verwischten die Schrift.
    Der Sturm tobte. Wind und eisiger Schnee heulten und pfiffen. Wir schaufelten einen Weg, um unsere Rationen abzuholen. Zwei Finnen konnten ihre Jurte im Schneesturm nicht mehr finden und quetschten sich mit zu uns. Einer litt an der Ruhr. Bei dem Gestank wurde mir schlecht. Meine Kopfhaut wimmelte von Läusen.
    Am zweiten Tag stand Mutter auf, weil sie unbedingt die Tür freischaufeln wollte. Sie wirkte so matt, als hätte sie einen Teil ihrer Seele verloren.
    »Du musst dich ausruhen, Mutter«, sagte Jonas. »Ich kann schaufeln.«
    »Es ist sinnlos, herumzuliegen«, erwiderte Mutter. »Es gibt Arbeit, und ich muss meinen Teil dazu beitragen.«
    Am dritten Tag des Schneesturms brachte Herr Lukas die zwei Finnen zu ihrer Jurte.
    »Wasch den Eimer draußen mit Schnee aus«, befahl mir der Glatzkopf.
    »Warum ich?«, fragte ich.
    »Wir wechseln uns ab«, sagte Mutter. »Jeder ist einmal an der Reihe.«
    Ich ging mit dem Eimer nach draußen in die Dunkelheit. Der Sturm war abgeflaut. Plötzlich bekam ich keine Luft mehr, weil die Feuchtigkeit in meinen Nasenlöchern gefroren war. Und wir hatten erst November. Die Polarnacht dauerte bis Anfang März, und das Wetter würde noch schlechter werden. Wie sollten wir das überstehen? Wir mussten den ersten Winter überleben. Ich reinigte in aller Eile den Eimer und kehrte in die Jurte zurück. Ich kam mir vor wie Janina, denn abends flüsterte ich mit Papa wie sie mit ihrer toten Puppe.
    20. November. Andrius’ Geburtstag. Ich hatte die Tage genau gezählt. Beim Erwachen wünschte ich ihm alles Gute, und ich dachte tagsüber an ihn, während wir Holz schleppten. Abends las ich im Schein des Ofens Dombey und Sohn . Krasiwaja . Ich hatte das Wort immer noch nicht entdeckt. Vielleicht würde ich darauf stoßen, wenn ich vorblätterte. Da fiel mir eine Markierung ins Auge, und ich blätterte wieder zurück. Auf Seite 278 hatte jemand etwas mit Bleistift notiert:
    Hallo, Lina. Du bist auf Seite 278. Ziemlich gut!
    Ich japste und tat dann so, als wäre ich in das Buch vertieft. Ich betrachtete Andrius’ Handschrift, fuhr mit den Fingern über die lang gezogenen Buchstaben meines Namens. Gab es noch mehr? Ich musste es wissen. Ich konnte nicht warten. Also blätterte ich das Buch sorgfältig durch und untersuchte die Seitenränder.
    Seite 300:
    Bist du wirklich schon auf Seite 300, oder blätterst du vor?
    Ich musste ein Lachen unterdrücken.
    Seite 322:
    Dombey und Sohn ist langweilig. Gib es zu.
    Seite 364:
    Ich bin in Gedanken bei dir.
    Seite 412:
    Denkst du vielleicht auch an mich?
    Ich schloss die Augen.
    Ja, ich denke an dich. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Andrius.

77
    Es war Mitte Dezember. Der Winter hielt uns in seinen Klauen. Der Lange hatte Erfrierungen. Seine Fingerspitzen waren faltig und pechschwarz. Auf seiner Nasenspitze bildeten sich graue Blasen. Wir wickelten uns in jeden Lumpen, den wir fanden. Wir umwanden unsere Füße mit alten, an Land gespülten Fischernetzen. Alle waren gereizt, und in der Jurte gingen wir einander auf die

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