Und jeder tötet, was er liebt
aber Jan Greve hatte vor allem deshalb Mühe zu atmen, weil er glücklich war. Durch sein Tor war ihr Team der Meisterschaft ein entscheidendes Stück näher gekommen. Endlich gehörte er wieder dazu. Vergessen waren die vergangenen sechs Monate, die Schmerzen und die Niedergeschlagenheit, als die Diagnose, ein doppelter Bänderriss, festgestanden hatte. Er strafte sie alle Lügen, die ihm keine Chance mehr gaben, ihn als Sportinvaliden abstempeln wollten. Jans Blick richtete sich auf die Tribüne. Ob sie heute gekommen war?
Die Sonne glühte rot am Abendhimmel, als Anna Greve auf ihrer Lieblingsstrecke durch die Lüneburger Heide lief. Atemlos auch sie, Mücken stachen durch ihr klebriges Trikot in die nackten Beine, doch sie bemerkte es nicht. Ihre Gedanken waren weit weg, fast schienen sie in einem anderen Leben zu sein.
Früher, wenn Tom unterwegs gewesen war, hatte Anna zumeist den Telefondienst für die Druckerei übernommen. Für ihre gemeinsame Existenz sei das wichtig, hatte er gemeint. Es mache einen guten Eindruck, wenn nicht immer nur der Anrufbeantworter liefe. Ein vernünftiger Gedanke, sie hatte geglaubt, dass er ihr nicht schwerfallen würde, ihm diesen Gefallen zu tun. Anna zeichnete gern und gar nicht mal schlecht. Sie hatte sogar eine Galerie gefunden, die ihre Bilder ausstellen wollte. Doch immer wenn es ihr gelungen war, sich etwas Zeit freizuschaufeln, die Jungen beschäftigt oder unterwegs gewesen waren, wenn es ihr gelang, die Berge an Hausarbeit zu ignorieren, und sie anfing, sich auf eines der Bilder zu konzentrieren, gerade dann schrillte der Geschäftsanschluss in seiner ohrenbetäubenden Lautstärke durch das Haus. Zuerst schien es ihr Zufall, irgendwann dann Fluch zu sein. Sie begann, sich leer zu fühlen, so, als habe sie kein eigenes Leben. Und das stimmte ja auch, Anna lebte nur noch für die Bedürfnisse ihrer Familie. Sie hatte keine Kraft und auch keine Quelle mehr, aus der sie schöpfen konnte. Lag stundenlang im Bett, zu müde für alles. Irgendwann hatte Anna zu ihrem Alltag zurückgefunden, hatte ihre Familie versorgt und war sogar glücklich damit gewesen, aber sie hatte aufgehört zu malen.
Eines Tages, als die Füße ihres Nesthäkchens größer geworden waren als ihre eigenen und das Armdrücken mit dem Älteren zu ihren Ungunsten auszugehen drohte, hatte Anna den Entschluss gefasst, wieder zu arbeiten. Keine Malerei, kein Halbtagsjob in einer Boutique, nein, Anna Greve wollte genau dort wieder anfangen, wo sie vor vierzehn Jahren aufgehört hatte. Als Kommissarin beim LKA. Jetzt erfüllte sich ihr Traum, Anna lachte. Sie lachte so sehr, dass sie Seitenstiche davon bekam. Ob er heute gespielt hatte?
Esther träumte, Alfons hielte sie im Arm. Endlich fror sie nicht mehr. Gähnend drehte sie sich auf der Matratze, als sie mit dem geschwollenen linken Knie an etwas Hartes stieß. Esther rieb sich die Stelle und suchte. Wenn das ein Stein gewesen war, würde sie ihn mit aller Kraft gegen die Metalltür schmettern. Sie zog das Ding unter der Matratze hervor, es war ein Buch. Ziemlich ramponiert, aber fest gebunden.
„Christa Wolf – Kindheitsmuster“, las Esther vorn auf dem Einband.
Welche Muster? Kindheitsmuster? Esther hatte kaum Gelegenheit gehabt, welche zu entwickeln. Kindheit, diese Zeit hatte sie übersprungen, sie war lieber schnell erwachsen geworden. Als ihre Mutter starb, war Esther noch klein gewesen. Wilfried, ihr Vater, hatte sich bemüht. Hatte den Kühlschrank gefüllt und die Heizung eingeschaltet. Aber ihre Tränen machten ihn hilflos, manchmal sogar ärgerlich, und Esther wurde so vor der Zeit erwachsen.
Kindheitsmuster, so ein Mist. Als Kind hatte sie den Mangel gelebt, den Verlust, die Leere. Sie war gewesen wie von innen ausgehöhlt. Wie ein Schokoladenweihnachtsmann oder Osterhase. Eine süße Fassade, dahinter ein großes Nichts. Mit diesem Nichts war sie herumgelaufen, bis sie Alfons kennenlernte.
Alfons hatte ihr Lachen zurückgeholt. Auf einem Betriebsausflug der väterlichen Firma hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen und sich sofort verliebt. Er war ein fröhlicher Mann, ansehnlich mit seinem dunklen Haar und dem spöttischen Ausdruck im Gesicht. Esther hatte die koketten Blicke der anderen Frauen bemerkt, die er genoss, aber nur unverbindlich beantwortete. Sie fühlte sich plump in seiner Gegenwart, hatte herumgestottert, nie hätte sie gedacht, dass er ihre Gefühle erwidern würde. Alfons war jedoch den ganzen Tag nicht von ihrer Seite
Weitere Kostenlose Bücher