Und jeder tötet, was er liebt
–
Wilfried Hinrichs hatte Johanna getötet, weil sie nicht in der Lage gewesen war, seine Gefühle zu erwidern. Als er spürte, dass sich daran wohl auch niemals etwas ändern würde, hatte er angefangen, sie zu verachten. Johanna hatte sich immer nur nach Gustav gesehnt.
Wilfried hatte seine Tochter aus Angst davor getötet, dass sich diese Geschichte noch einmal wiederholen könnte. Er befürchtete, auch Esther würde ihn eines Tages wegen Gustav verlassen. Und das, obwohl sie ihren Vater Wilfried bestimmt gemocht hatte, warum sonst hätte Esther ihn regelmäßig besucht? Dieser Satz, den François Villon vor langer Zeit einmal aufgeschrieben hatte, besaß auch heute noch eine tiefe Wahrheit, dachte Anna. Fast schien es ihr, als habe Wilfried Hinrichs diesen Satz gekannt und zu wörtlich genommen. Zweifellos war er ein sehr unglücklicher Mann gewesen und ganz sicher selbst eines von Villons Kindern.
Anna wünschte sich, mehr von Psychologie zu verstehen. Sie glaubte, Esthers Vater und seine Verbrechen besser begreifen zu können, sobald sie seiner Krankheit nur einen Namen geben konnte. Die Ungeheuerlichkeit seiner Taten wäre vielleicht dadurch für sie verständlicher geworden.
Das Verbrechen an Esther Lüdersen hatte eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt, in deren Verlauf alle Männer, die ihr etwas bedeutet hatten, nunmehr tot waren oder für den Rest ihres Lebens im Gefängnis saßen. Ihrer Mutter Johanna hatte vielleicht die Kraft, ihr Leben zu leben, gefehlt. Aber Esther war anders gewesen, das war Anna anhand des Wenigen, was sie herausbekommen hatte, deutlich geworden. Esther hatte ihren Weg gefunden, doch am Ende hatte es ihr nichts genutzt. Anna hoffte, dass Esther mit ihrer kindlichen Glaubensvorstellung von der Kraft eines allmächtigen Gottes recht behalten hatte. So würde sie möglicherweise den Seelen aller Menschen, die ihr wichtig gewesen waren, in einem anderen Leben wieder begegnen. Nur Esther konnte wissen, wer dazugehörte.
Der blaue Himmel über Anna war durch kein Wölkchen getrübt. Der Wind roch salzig, fast meinte sie, hinter der nächsten Häuserecke das Meer sehen zu können. Seufzend ging sie in ihr Büro zurück.
Im Zimmer nebenan wurde eifrig gepackt, Martin Kuhn bereitete sich auf seine Abreise nach Wiesbaden vor. Ihm schien der Abschied leichtzufallen, jedenfalls hatte er keinerlei Anstalten gemacht, sie alle noch auf ein letztes Stück Trockenkuchen einzuladen. Anna war es recht so, und auch in den Gesichtern von Weber und Günther Sibelius hatte sie keine große Enttäuschung entdeckt. Sie hörte weiter die Geräusche aus Kuhns Büro und bekam gerade selbst große Lust, ihre Koffer zu packen. Genau das würde sie auch tun, Anna brauchte jetzt unbedingt die Nähe des Meeres. Sie wollte im Sand herumgehen oder mit nackten Füßen am Ufer stehen und in die Ferne schauen. Dann würde sie den Blick auf den Boden richten und sanft schimmernde Muscheln suchen. Günther Sibelius hatte nichts gegen ihre Pläne einzuwenden. Es zeichnete sich ab, dass er wohl in Zukunft die Dienststelle leiten würde. Anna vermisste ihre Kinder und zu ihrer eigenen Verblüffung auch ihren Mann Tom. Sie wusste noch immer nichts von dem Gespräch zwischen Tom und seinem Bruder, doch hätte sie es gewusst, ihre Vorfreude wäre nicht kleiner gewesen.
Anna war zuversichtlich.
— ENDE —
Weitere Kostenlose Bücher