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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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Sie versichert, das wird es auch nie wieder geben, du unverschämter, mieser kleiner Halbjud, du! Jetzt ist Schluß mit dir!«

8
    Sie irrten durch die Stadt.
    Sie wagten nicht, nach Hause zu gehen.
    Vor jedem alten Mann, der ihnen nachsah, vor jeder Frau, die gegen sie stieß, hatten sie Angst, vor jedem Polizisten, jedem SA -Mann.
    Zweieinhalb Millionen Menschen wohnten in Groß-Wien, und sie alle waren ihnen nun unheimlich, keinem konnten sie trauen, nein, keinem, denn jeder konnte ein Spitzel sein, ein Verfolger, ein Häscher, jeder konnte ihnen Böses tun. Zweieinhalb Millionen Menschen, und unter diesen zwei Halbwüchsige, die plötzlich wieder zu Kindern geworden waren – Kindern, die niemanden mehr hatten als einander.
    Du unverschämter, mieser kleiner Halbjud, du! Jetzt ist Schluß mit dir! Was hat er damit gemeint, Bianca? Schluß mit mir? Was wird er tun? Was kann er tun? Ach, der kann alles tun, der kennt die höchsten Bonzen, ist ja selber ein hohes Tier, das dauernd nach Berlin fährt …
    Warum fährt er nach Berlin?
    Arbeitet an irgendeinem Projekt mit. Hat ein ganz großes Laboratorium im Institut. Hinter dem Mikrowaagen-Zimmer im ersten Stock. Da arbeitet er oft, auch noch nachts. Immer sind die Türen verschlossen. Aber ich habe Licht in den Fenstern gesehen, um Mitternacht war das einmal. Der braucht nur mit einem seiner Freunde zu telefonieren, und ich … Hör auf! Bitte! Sag es nicht. Es muß nicht so sein. Vielleicht beruhigt er sich.
    Der?
Nie! Der hat auf so etwas doch nur gewartet!
    O Gott, Heinz, mein Vater ist auch in der Partei. Was werden meine Eltern sagen? Ich muß es ihnen doch erzählen.
    Und ich meiner Mutter. Meine Mutter ist allein. Deine hat noch ihren Mann. Mein Vater, der feige Jud …
    Heinz!
    Ausgerissen ist er! Geflohen! Im Stich gelassen hat er meine Mutter!
    Was heißt geflohen? Sollte er sich totschlagen lassen? Würdest du nicht auch fliehen, jetzt, wenn du könntest? Siehst du! Aber du kannst nicht. Ich auch nicht. Wir müssen nach Hause und …
    Ich gehe nicht nach Hause! Ich traue mich nicht! Ich gehe nicht nach Hause …
    Zehnmal, zwanzigmal wiederholte er diese und ähnliche Sätze in vielen Stunden des Herumirrens durch die große Stadt.
    Sie trugen beide nur ihre Schulmappen. Heinz’ Bücher und eine große Kiste, in die all das chemische Gerät gepackt war, das er, wie jeder Schüler, selber hatte kaufen müssen, waren von dem freundlichen, mitleidvollen Pedell des Instituts in Verwahrung genommen worden.
    Von Döbling bis zum Ersten Bezirk. Vom Ersten Bezirk bis zum Prater. Vom Prater bis zur Friedensbrücke …
    Ich kann nicht mehr, Heinz … mir tun die Füße so weh …
    Sie gingen in ein kleines, dämmeriges Kaffeehaus. Nach einer Viertelstunde schon trieben Angst und Unruhe sie weiter. Zurück in den Neunten Bezirk. Ein Kino. Sie nahmen Karten für die billigsten Plätze und setzten sich auf knarrende Holzstühle und hielten einander an den Händen, den vor Aufregung heißen, feuchten Händen.
    Ein lustiger Film lief, die Leute im Kino lachten sehr.
    Sie verstanden überhaupt nicht, was auf der Leinwand vor sich ging. Sie tuschelten miteinander. Dieselben Sätze der Furcht, immer dieselben. Zuschauer wurden wütend, zischten sie zur Ruhe, schimpften.
    Erneut in Panik, eilten sie auch aus dem Kino. Nun war die milde Sonne dieses Tages schon untergegangen. Dämmerung, Dunkelheit kamen schnell. Es wurde kalt, eisig kalt. Immer noch irrten sie weiter. Über den Ring bis zur Oper. Stadtauswärts, die endlose Wiedner Hauptstraße hinauf. Fünf Uhr wurde es. Sechs Uhr. Halb sieben. Bianca stolperte schweigend neben dem schweigenden Heinz einher. In der Nähe des Südbahnhofs lehnte sie sich plötzlich schwankend gegen eine Hauswand.
    Mir ist so schlecht … Ich glaube, ich muß brechen … Und ich kann nicht mehr laufen … Bitte, wir müssen nach Hause … Es ist mir egal, was geschieht … Ich kann nicht mehr … Sieh das ein, Heinz, sieh das doch ein …
    Ich sehe es ja ein … Kannst du allein stehen?
    Ja …
    Da ist eine Telefonzelle. Ich … rufe meine Mutter an …

9
    »Du Judenhure!« schrie Egmont Heizler. Er schlug seiner Tochter wuchtig ins Gesicht. Sie flog gegen den Schrank ihres Zimmers. Der Schlag brannte wie Feuer und trieb Bianca Tränen in die Augen. Wieder schlug Egmont Heizler, Philologe, Germanist, Verfasser wohlbekannter Werke über deutsche Literatur, Parteigenosse und, seiner wohltönenden Stimme und dramatischen

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