Und Jimmy ging zum Regenbogen
trafen uns oft am Nachmittag und an Sonntagen und in den Ferien überhaupt! Wir paßten sehr auf und nahmen uns sehr in acht. Dachten wir. In Wirklichkeit waren wir leichtsinnig, schrecklich leichtsinnig … Kinder eben noch … Und so mußte es kommen, wie es dann gekommen ist … am 21. Oktober. Ich erinnere mich an das Datum noch so genau, weil ich am 19. Geburtstag habe. Ja, am 21. Oktober 1942 war das …«
6
Eine Kationen-Bestimmung nach dem Schwefelwasserstoffgang.
Das machte Heinz Steinfeld nun fast schon im Schlaf.
Die Flüssigkeit in der Eprouvette, die er von Professor Salzer erhalten hatte, enthielt gelöste Metallverbindungen. Heinz sollte feststellen, um welche Metalle es sich handelte.
Dieses Halbjahr endete im Februar 1943, heute war Mittwoch, der 21. Oktober 1942, ein sonniger und warmer Tag, und Heinz Steinfeld hatte bereits zwei Drittel aller vorgeschriebenen Übungen für das ganze Semester mit glänzendem Erfolg hinter sich gebracht.
Er nahm einen Kolben von einer Apparatur, verdünnte mit heißem Wasser, ließ es erkalten und filtrierte. Wenn er so weitermachte, war er morgen mit der Analyse fertig.
Halb zwei!
Langsam und scheinbar geistesabwesend schlenderte Heinz zu einem der großen Fenster und blickte in den milden Sonnenschein hinaus. Gegenüber, bei der Mädchenschule, war ein Fenster auf gleicher Höhe geöffnet. Bianca stand da. Sie trug die weiße Bluse mit dem Spitzenkragen, die er besonders liebte. Sein Herz schlug schneller, als er sah, wie das schöne Mädchen nun verstohlen und behutsam den Daumen der rechten Hand erdwärts drehte. Er tat dasselbe. Sie nickte einmal kurz, dann war sie verschwunden. Heinz wanderte an seinen mit Apparaturen und Gläsern vollgeräumten Arbeitsplatz zurück und stellte den Glaskolben mit dem Filtrat auf ein Asbestgitter über einem Dreifuß, unter dem ein Bunsenbrenner stand. Er zündete den Brenner nicht an.
»Ich gehe jetzt zum Leitner«, sagte er, an den Jungen gewendet, der neben ihm arbeitete. Ganz nahe gab es ein kleines Gasthaus, das für die Studenten der Chemie-Staatsschule einen täglichen Mittagstisch bereitete – gegen entsprechende Mengen von Lebensmittelmarken. Das Essen war eintönig und schlecht. Nicht sehr viele Schüler gingen ›zum Leitner‹. Heinz Steinfeld ging. Das Essen schmeckte ihm nicht, aber er war anspruchslos, und dann hatte er einen sehr wichtigen Grund für den angeblich täglichen Besuch des kleinen Lokals. So konnte er jederzeit um die Mittagsstunde oder danach das Laboratorium verlassen …
7
Aus dem Gebäude tretend, bog er links in eine stille Seitenstraße und ging diese hinauf bis zu dem Sportplatz mit dem hohen Drahtgitterzaun. Dabei drehte er sich gelegentlich um. Die Straße war menschenleer. Heinz hatte seinen weißen Labormantel nun ausgezogen und trug Kniestrümpfe, Halbschuhe, eine kurze Hose und eine Tweed-Jacke. Er hatte noch nie lange Hosen getragen. Er besaß gar keinen richtigen Anzug.
Heinz Steinfeld war ein hochgeschossener, magerer Junge. Er hatte das schmale Gesicht, die blauen Augen und das blonde Haar der Mutter. Und Sommersprossen. Er trug keine Krawatte, sondern einen Schillerkragen. Krawatten konnte er nicht leiden.
Mit dem linken Fuß stieß er einen Stein vor sich her, während er auf den Sportplatz zuging. Heinz besaß keinen wirklichen Freund in der Schule, aber viele Jungen hatten ihn gern und waren kameradschaftlich und freundlich zu ihm. Sie behandelten ihn wie ihresgleichen, obwohl sie alle wußten, daß sein Vater Jude war. Das hatte ein Lehrer, der ihn nicht leiden mochte, einmal vor der Klasse ausposaunt. Aber Heinz konnte sich im allgemeinen auch über die Lehrer nicht beklagen. Natürlich gab es ein paar Hundertfünfzigprozentige, die ihn übersahen, reizten oder von Zeit zu Zeit mit Bemerkungen demütigten. Nun, das war bei den Mitschülern dasselbe. Auch da gab es ein paar Stänkerer. Nichts Schlimmes, obwohl Heinz sich immer elend, hilflos und entehrt vorkam, wenn er attackiert wurde. Er konnte sich doch nicht wehren! Gerne und leicht hätte er seine gleichaltrigen Quälgeister ordentlich verprügelt – aber auf so etwas durfte er sich nicht einlassen. Das sagte ihm der Direktor der Anstalt, Professor Dr. Karl Friedjung, in aller Deutlichkeit.
»Es ist ein großes Privileg, daß wir Sie hier ausbilden, Steinfeld. Sie haben sich stets besonders korrekt zu benehmen. Ich werde keinerlei Unregelmäßigkeiten hinnehmen.«
Der alte Quatschkopf, dachte Heinz
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