Und keiner wird dich kennen
Glück passen ihre Sachen gerade so in den Kofferraum, dann drängen Lila, Maja und Elias sich auf den Rücksitz. Elias mit seinem Plüschdrachen in der Mitte, Maja schmerzhaft gegen die Seitentür gedrückt, den schweren Rucksack auf dem Schoß. Es ist keine Zeit für einen letzten Blick. Schon fährt der Streifenwagen los, bringt sie fort. »Bitte erst mal zu einer Bank, Geld abheben«, bittet Lila.
Ab jetzt sind sie auf der Flucht.
Zu keinem ein Wort
Das Haus am Stadtrand ist von hohen Hecken umgeben, hier verbarrikadiert sich jeder hinter grünen Mauern. Sie stehen vor einer altmodischen Haustür aus krisseligem Glas, schweigend drückt Lila den Klingelknopf, auf dem SINGERL steht. Schemenhaft kann Maja durch die Tür erkennen, dass jemand heranschlurft, dann öffnet eine alte Frau mit braun gefärbten Locken und Brille. Sie trägt einen dunkelblauen Pullover, der sich über ihrer enormen Oberweite wölbt, steinfarbene Hosen und klobige Hausschuhe mit Korksohlen.
»Na, da seid ihr ja schon«, sagt die Frau und lächelt ein wenig zögernd, als sei sie noch nicht ganz sicher, was sie von dieser ganzen Sache halten soll.
»Das ist furchtbar nett von Ihnen, dass wir erst mal bei Ihnen bleiben dürfen, Frau Singerl«, sagt Lila. »Mein Name ist Lila, das hier sind Maja und Elias.«
Frau Singerl nickt. Sie kneift ein wenig die Augen zusammen, als sie Lila mustert, und Maja stellt sich vor, was sie sieht: eine große, schlanke Frau in den Dreißigern, hübsch, lange dunkelbraune Locken, gesteppte schwarze Winterjacke, violetter Schal und kniehohe Stiefel. Vielleicht fragt sie sich, ob das die Kollegin sein soll, von der ihre Tochter erzählt hat, die Mechatronikerin, und wo ist eigentlich das Öl unter ihren Fingernägeln? Daneben ein Mädchen, fast ebenso groß wie die Frau, aber etwas unscheinbarer, mit einem ebenmäßigen, runden Gesicht und skeptisch blickenden dunklen Augen. Und ein Junge, der irgendwie so aussieht, als würde er nicht dazugehören, er ist so blond. Seine Haut ist sehr hell, fast durchscheinend, man sieht jede Ader.
»Sieht aus, als würd’s heute mal wieder schneien«, sagt Frau Singerl nach einem Blick zum Himmel und hält dann die Tür auf. »Bitte die Schuhe ausziehen, ich habe gerade gewischt.« Im Haus riecht es nach Hühnersuppe, muffigen alten Kleidern und Frau Singerls Rosenparfüm, das sie anscheinend literweise verwendet.
Mühsam schleppen sie ihre Koffer eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort zeigt Frau Singerl ihnen das ehemalige Zimmer ihrer Tochter, viel ist nicht mehr darin: ein Kleiderschrank, ein Einzelbett mit Kissen darauf, ein zu oft gewaschener hellgrüner Teppich. »Hier könnt ihr schlafen.« Frau Singerl schnauft nach dem Erklimmen der Treppe. »Es gibt leider nur ein Bett. Aber da passt ihr bestimmt zu zweit rein.«
Eingeschüchtert lugt Maja durch die Tür. Auch hier riecht die Luft abgestanden. An der Wand hingen vielleicht früher mal Poster von irgendwelchen Stars, man sieht noch die Löcher der Reißzwecken, doch jetzt prangt dort ein Reisebüro-plakat: eine Küstenlandschaft mit Blüten im Vordergrund, wahrscheinlich Italien, ganz schön kitschig. Elias setzt sich auf das Bett, wippt zögernd auf und ab, haut mit der Hand auf eins der grünen Kissen und sagt noch immer kein Wort.
Frau Singerl nimmt das Kissen, legt es wieder ordentlich hin und zupft es in Form. Dann führt sie Lila zu einem anderen Zimmer, in dem ein wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz steht und Bücherregale die Wände bedecken. »Das war das Arbeitszimmer meines Mannes«, sagt sie und seufzt. Dann deutet sie auf eine rissige braune Ledercouch. »Hier, die bezieh ich gleich mal für Sie. Da vorne ist das Bad. Mein Schlafzimmer ist eins weiter.«
Dann gehen sie alle zusammen in die Küche und setzen sich an den mit einer Wachsdecke bezogenen Küchentisch. Auf einem alten Gasherd wärmt Frau Singerl Hühnersuppe mit Reis und Gemüse auf. »Es ist nicht viel, ich hab ja nicht gewusst, dass Gäste kommen«, entschuldigt sich ihre Gastgeberin, und Lila versichert, dass es natürlich völlig ausreiche und sie froh seien, überhaupt etwas zu essen zu haben und wie nett das von ihr sei.
Maja bekommt kaum etwas herunter, sie fühlt sich wie verbannt aus ihrer Welt, dieses Haus engt sie ein. Aber immerhin sind sie hier sicher und ihre Angst lässt langsam wieder nach. Hier wird niemand sie finden, Robert Barsch nicht und seine Freunde auch nicht. Ganz bestimmt.
Missbilligend
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