Und morgen am Meer
schlimm werden!
Ich täuschte mich. Kaum hatte ich den Matheraum verlassen, schoss Frau Heinrich wie ein Kastenteufel aus der Ecke. »Milena!« Ihr Tonfall verhieß nichts Gutes.
»Ja, Frau Heinrich?«
Insgeheim hatte ich gehofft, dass ich ihr heute nicht über den Weg laufen würde. Die ganze Woche nicht. Warum wurde diese Frau nie krank?
»Was ist mit der Wandzeitung?«
Mir rutschte das Herz in die Hose.
Ich blickte zu Sabine, die entschuldigend die Schultern hochzog. Frau Heinrichs strenger Blick brachte sie dazu, sich schnell zu verkrümeln.
»Du willst nächstes Jahr zur EOS , nicht wahr?« Frau Heinrichs drohender Unterton entging mir nicht. Sie wusste, dass ich die Wandzeitung nicht hatte. »Man wird es dort nicht gern sehen, wenn dein außerschulisches Engagement weiterhin so mangelhaft bleibt. Es könnte sogar sein, dass du nicht delegiert wirst.«
Sollte das etwa heißen, dass ich wegen dem blöden Pädagogen-Club kein Abitur kriegen sollte? Dass ich nicht Literatur studieren konnte, wie ich es eigentlich vorhatte?
Damit hatte ich nicht gerechnet, und es wäre mir lieber gewesen, wenn sie wieder mit ihrem üblichen Gemecker von wegen Kollektiv und sozialistischer Schülerpersönlichkeit angefangen hätte.
»Ich …«, presste ich hervor, aber noch immer waren alle Worte weg. Natürlich wollte ich zur EOS , natürlich wollte ich studieren! Was meinte sie denn, warum ich mich in Mathe so abrackerte?
Frau Heinrich zog die rechte Augenbraue hoch, was ihrem Gesicht einen komischen Ausdruck verlieh, doch zum Lachen war mir heute nicht.
»Ich bringe sie morgen mit«, versprach ich schnell.
»Ehrenwort?«
Pionierehrenwort, wäre es mir beinahe rausgerutscht, aber ich verkniff es mir gerade so. »Ja, Frau Heinrich!«, entgegnete ich kleinlaut.
»Gut, dann kannst du jetzt gehen«, sagte Frau Heinrich, kein bisschen freundlicher als vorhin, aber mir genügte, dass sie mich entließ.
Während ich durch den nach Linoleum, Holz und Kreide riechenden Schulflur lief, vorbei an offen stehenden Raumtüren, hinter denen sich die Schüler auf den Unterricht vorbereiteten, fragte ich mich, wie ich die Wandzeitung voll bekommen sollte. Ich hatte kein Problem damit, mir eine Geschichte auszudenken, aber wohl eins, wenn es darum ging, eine Wandzeitung anzufertigen, die gleichzeitig den Geschmack einer mir völlig fremden Frau und des ZK der SED treffen sollte.
Aber vielleicht kam mir ja noch was in den Sinn …
Claudius
Ich hatte gerade den perfekten Akkord gefunden, als mein Freund Max in unsere Garage stürmte, die ich, wenn Vater nicht da war, als Proberaum benutzte.
»He, wollen wir nach drüben fahren?«, keuchte er. Offenbar war er die drei Straßen, die unsere Häuser voneinander trennten, gesprintet. »Heute wird’s sicher heiß, da willst du doch nicht in der Garage bleiben.«
Meine Gitarre gab einen grausigen Misston von sich, als meine Finger vom A abrutschten.
»Nach drüben?«, fragte ich begriffsstutzig, denn es fiel mir schwer, mich plötzlich auf etwas anderes zu konzentrieren, wenn ich erst einmal eine Melodie im Kopf hatte. Diese verfolgte mich schon seit dem Morgen, und Max war gerade dabei, sie mir zu vermiesen. »Ist heißes Wetter nicht eher ein Grund, an den Wannsee zu fahren?«
Max winkte ab. »Nee, da sind heute alle. Lass uns was anderes machen! Billig Zigaretten kaufen und mal nach Büchern schauen. Nirgendwo kriegt man besser was von Marx und Co. als im Osten! Was sagst du?«
Am liebsten hätte ich ihn rausgescheucht, aber er war nun mal mein bester Freund. Und eigentlich hätte ich seine komischen Einfälle gewohnt sein müssen.
Seufzend stellte ich meine Gitarre auf den Ständer zurück. Der Song war weg. Wenn ich Glück hatte, war er nur irgendwo zwischen meine Gehirnwindungen versackt, von wo er sich sicher wieder melden würde, wenn ich Ruhe hatte. Aber jetzt war’s vorbei.
»Und wie willst du da hinkommen?« Ich blickte zu meiner Maschine. Seit dem Vorfall vor einem Jahr hatte ich zwar an ihr geschraubt, aber nicht mehr auf ihr gesessen. Ich konnte einfach nicht. Ich wollte nicht schon wieder jemanden in Gefahr bringen. »Du weißt doch, ich …«
»Ich weiß!«, entgegnete er. »Wir fahren mit der S-Bahn!«
»S-Bahnfahren ist uncool«, hielt ich dagegen. Da die Bahn früher von der DDR betrieben wurde und die Westberliner den Parteibonzen kein Geld in den Rachen werfen wollten, bestreikten die meisten die Züge.
»Quatsch!«, entgegnete Max. »Vielleicht gibt’s
Weitere Kostenlose Bücher