Und morgen am Meer
ohnehin besser, ihn nicht darauf anzusprechen. Als ich einmal zornig verlangt hatte, dass er sie mir zeigen soll, hätte er mich um ein Haar geohrfeigt. Nur Mirko hatte ich es zu verdanken, dass er es nicht getan hatte. Später dann hatte mir mein Bruder geraten, das Thema nicht mehr anzusprechen.
Ich hatte gehofft, dass Mirko mir irgendwann erzählen würde, was er noch von Mama wusste – immerhin war er schon fünf gewesen, als sie starb, ein bisschen was musste doch hängen geblieben sein! Doch er schwieg, und schon bald interessierte er sich nur noch für Mädchen und seine Jawa.
Auch ich dachte mittlerweile an andere Dinge, aber hin und wieder kehrten die Fragen zu mir zurück.
Nachdem ich meine fettigen Stullen außer Reichweite der Hefter eingepackt hatte, schob ich die Kassette in das Fach meiner Schultasche, das eigentlich für die Stullen gedacht war. Ich fand meine Schultasche hässlich – braunes Leder mit Metallschließen –, aber sie erfüllte ihren Zweck.
»Zweckmäßigkeit ist die Stütze des Sozialismus!«, behauptete unser Stabü-Lehrer immer. Niemand glaubte ihm. Wir kannten alle die Werbung im Westfernsehen und wussten, dass ein Land auch prima funktionierte, wenn die Sachen nicht nur zweckmäßig, sondern auch schön waren. Und so gut dufteten wie der Eingang eines Intershops.
Mit der Tasche auf der Schulter flitzte ich die Treppen hinunter und dann durch den Hausflur, in dem ich von Minka, der Katze von Frau Krause aus dem ersten Stock, begrüßt wurde. Der kleine Tiger mauzte kurz und flüchtete dann vor meinen heranstampfenden Füßen in Richtung Keller.
Zu meiner Schule war ich zehn Minuten mit der S-Bahn unterwegs. Fünf Minuten brauchte ich, um zur Ecke Schönhauser Allee zu kommen, wo mich meine Freundin erwartete, Sabine Mohr, sechzehn Jahre alt, FDJ -Kollektivvorsitzende und Klassenbeste der 9b.
Ihr Blauhemd saß wie angegossen und hatte nicht einen einzigen Knick. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden, zwei Spangen, von denen der Lack abplatzte, hielten Strähnchen, die sich herausgemogelt hatten.
Als sie mich sah, lächelte sie breit, winkte und kam mir dann entgegengetrabt.
»He, wie geht’s?«, fragte sie und setzte nach kurzem Mustern hinzu: »Haste an die Wandzeitung gedacht?«
Ich hätte ja eigentlich damit gerechnet, dass sie zuerst nach der Kassette fragen würde, aber so war sie nun mal: An Wochentagen ging die Pflicht vor!
Die Wandzeitung für den »Club der Jungen Pädagogen« war allerdings das Letzte, woran ich am Wochenende gedacht hatte. Lorenz hatte mich überredet, mit ihm in eine Disco am Prenzlauer Berg zu kommen. Am Sonntag hatte ich dann eine neue Geschichte begonnen.
»Mist, vergessen!« Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn.
Sabine schnappte nach Luft. »Du weißt, dass du Ärger mit der Heinrich kriegen wirst!«
Aus irgendeinem Grund war meine Klassenlehrerin der Meinung, dass ich meinen beruflichen Zielen näherkommen würde, wenn ich in irgendeinem Club mitmachte und dort Wandzeitungen anfertigte, die eh dasselbe erzählten wie die Tageszeitungen: Planübererfüllung, die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus, die Vorzüge der Volksbildung und so weiter.
»Die hat schon letzte Woche gesagt, dass es raucht, wenn die Wandzeitung nicht fertig ist«, fuhr Sabine fort.
»Ich kann ja noch mal umdrehen und die Bilder holen«, entgegnete ich, streckte dann aber meinen Arm vor, sodass sie einen Blick auf das Zifferblatt meiner Uhr werfen konnte. »Aber ich sage dir, Kowalsky flippt aus, wenn wir wieder zu spät sind.«
Erst in der vergangenen Woche hatten wir uns so verquatscht, dass wir unsere Station verpasst hatten und eine weiter gefahren waren. Herr Kowalsky, unser Mathelehrer, hatte sich bei unserem Eintreten beim Klingelzeichen nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen, ein Zeichen höchster Gefahr, denn wenn man Pech hatte, konnte man gleich an der Tafel bleiben. Letzte Woche hatten wir noch mal Glück gehabt, aber wenn wir diesmal erst beim Klingeln durch die Tür kamen …
»Na gut, lass die Wandzeitung«, seufzte Sabine. »Aber den Anschiss wirst du kriegen.«
Ich gab mich furchtlos und winkte ab. »Ich hör mir Heinrichs Gemecker an und schalte auf Durchzug.« Das gelang mir zwar meist nicht, aber jetzt war es ohnehin nur noch eine Woche, und der Club der Jungen Pädagogen konnte mir dann samt Frau Heinrich gestohlen bleiben. Es würde schon nicht so
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