Und morgen seid ihr tot
mir mehrmals in den Oberschenkel, um sicher zu sein, dass ich nicht träume, dass wir tatsächlich in die Freiheit entschweben. Ich spreche stumm mit meinen Eltern, mit unseren Freunden, die sich um diese Zeit – vier Uhr in der Schweiz – sicher noch im Bett wälzen, vielleicht von Albträumen und Kummer gequält. Ich danke innerlich Dumbo dafür, dass er dagegen bei unserer Flucht so tief und fest geschlafen hat.
Als die Leuchtziffern der Uhr, die Nazarjan uns geschenkt hat, 10 : 12 Uhr anzeigen, sind wir in einem »Safe House« des pakistanischen Geheimdienstes angekommen. Wir haben eine schier endlose warme Dusche und den Luxus einer Sitz-Toilette genossen und liegen auf einem breiten, weichen Bett. Im Fernsehen ist Roger Federer zu sehen, der mit seinen gewohnt souveränen Grundlinienschlägen ein Tennismatch dominiert. 10 : 12 Uhr in Islamabad, 7 : 12 Uhr in der Schweiz. Ich sage zu David: »Jetzt wissen sie es zu Hause«, und ich fange zu weinen an.
Tatsächlich steht meine Mutter genau um diese Zeit in der Küche, trinkt ein Glas warmes Leitungswasser, stützt sich an der Spüle ab und denkt: »Ich habe keine Kraft mehr, keinen Moment länger halte ich das aus.« Dann rafft sie sich auf, spricht stumm mit mir und David, wünscht uns, wie jeden Morgen, einen Guten Tag. Das Telefon klingelt, die Nachbarin stammelt in den Hörer: »Sie sind frei, sie sollen geflüchtet sein.« Meine Mutter fängt zu schreien an, mein Vater hört sie, springt tropfnass aus der Dusche und rennt die Treppe hinunter. »Was ist los?«, ruft er, ehe er begreift. Sie umarmen einander, lachen und weinen, und meine Mutter fängt zu singen an: »Ich liebe dich, und du bist alles, meine Daniela.«
Zur selben Zeit ist unser Freund Peter auf dem Weg zur Arbeit. Er steht auf der A 1 Richtung Bern im Stau, wie jeden Morgen. Wie jeden Morgen sieht er das Foto von uns, das seit 259 Tagen am Rückspiegel baumelt, das Radio läuft. Dann kommt die Meldung, die beiden am 1. Juli 2011 in Loralai entführten Schweizer seien frei, geflüchtet. Peter schert aus auf den Pannenstreifen, stellt den Motor ab, nimmt das Handy und ruft zu Hause an. Seine Frau Muriel macht gerade Frühstück, bestreicht die Brote für Liv und Fynn mit Himbeermarmelade. »Sie sind frei, Muriel, David und Daniela sind frei, geflüchtet, es ist endlich vorbei«, stammelt er. Muriel bricht in Tränen aus, sie weint und lacht, und die Kinder fragen: »Mama, was ist nun? Bist du traurig oder glücklich?«
Peter fährt ins Büro und sagt seinem Chef, inmitten einer Traube aufgeregter Mitarbeiterinnen: »Ich kann heute nicht arbeiten, ich komme morgen wieder.«
Er fährt zu Ursina, besorgt unterwegs belegte Brote und eine Flasche Rotwein, und um acht Uhr stoßen sie an auf unser zweites Leben.
EPILOG
DAS LEBEN DANACH
Wenn ich heute mein Gefühl der Dankbarkeit beschreibe, zum Beispiel dafür, dass Dumbo in der Nacht unserer Flucht so tief und fest geschlafen hat, dann mag das auf Sie, liebe Leser, befremdlich wirken, als die Folge des Stockholm-Syndroms. Tatsächlich hatten David und ich immer wieder über dieses uns bekannte Syndrom gesprochen, und wir versuchten, es für unsere Zwecke, für das nackte Überleben, einzusetzen. So suchten und fanden wir die Nähe, das Vertrauen, das Zutrauen und eine Art Kollegialität zu unseren Bewachern.
Uns wurden achteinhalb Monate unserer Freiheit und unseres Lebens genommen, wir mussten sechstausendzweihundert Stunden lang gegen die Todesangst ankämpfen, und auch unsere Familien und Freunde haben ähnliche Ängste durchleben müssen. Jedoch hätten uns unsere Entführer fürs Leben weit mehr schädigen können. Ich möchte nicht ausführen, was alles hätte passieren können, wie versehrt an Leib und Seele wir hätten zurückkehren können.
»Am Ende bleibt das Leben«, hatte ich einmal in großen Lettern ins Tagebuch geschrieben, als ich den Anblick der hohen Mauern, die Insekten auf meinem Körper und den Nebel vor meinen Augen nicht mehr ertragen konnte. Dieser Satz hat eine viel tiefere Bedeutung, als ich damals – wir hatten gerade einmal die Hälfte der Zeit überstanden – erahnen konnte. Man hat uns die Freiheit und vieles mehr genommen. In Ansätzen waren sich unsere Entführer dessen bewusst, aber die eigentliche Dimension konnten sie nicht begreifen. Sie haben unser Leben auf immer verändert.
Wenn ich mich heute selber google und mich als Entführungsopfer sehe, dann wird mir
Weitere Kostenlose Bücher