Und morgen seid ihr tot
nicht weit, die Teerstraße zum Stützpunkt. Los.«
Unten im Tal, im gräulich schimmernden Flussbett, rollt ein Taliban-Auto. Ein zweites kommt ihm entgegen, dann ein drittes. Die Wagen bremsen, halten nebeneinander, offensichtlich reden die Fahrer miteinander. Über uns?
Mino und die anderen haben uns immer wieder erzählt, die Taliban würden rund um die Uhr patrouillieren. Auch die Jailer hatten sich regelmäßig zum »Nachtdienst« abgemeldet, was wir für Angeberei gehalten hatten. Aber vielleicht hat man uns die Wahrheit gesagt und die Fahrzeuge, die wir unten in dem Flussbett sehen, fahren nur eine Routinepatrouille.
Vom Verlauf der Teerstraße können wir auf die Lage der Militärbasis schließen. Sie muss auf dem Hügel zu unserer Rechten liegen, etwa achthundert Meter Luftlinie entfernt. Aber diese Luftlinie führt über ein Tal und drei Straßen hinweg. Und jede Straße bedeutet Gefahr.
Der Mond kommt über einen Bergrücken gekrochen. Zuerst nur ein diffuser Lichtklecks, der eine Kante erleuchtet, aus der sich ein weißes Segment, wie ein Fingernagel, erhebt. Es ist Viertel vor zwei, innerhalb weniger Minuten hat sich der Halbmond von der Erdkruste gelöst, steht strahlend, fast heiter, im Nachthimmel und taucht die Landschaft in Silbertöne.
Eine Drohne schiebt sich einen Moment mit ihrem verdickten Bug und dem schlanken Rumpf vorbei, und dann ist sie wieder in der Finsternis verschwunden, wie all die anderen, die ihre elliptischen Bahnen ziehen, tiefer jetzt als am Tag, drei, vier, dann fünf dieser unbemannten Flugkörper mit ihren Tag- und Nachtsichtkameras, mit ihren Hellfire-Raketen und ihren 500-Kilogramm-Bomben. Einige tausend Meter über ihnen Passagierflugzeuge, hier unten auf unserer Erdoberfläche dagegen kämpfen sich die Taliban-Autos durch das Flussbett und malen mit ihren gelblichen Scheinwerfern Muster in die Nacht.
»Los, Daniela, wir müssen gehen. Du musst dich jetzt überwinden!«, ruft David. Er springt auf die Füße und geht los. Fast vergnügt wirkt er, während ich mich in unserem Nest so wohl und geborgen fühle, dass ich immer noch nicht weg will. Warum schon wieder laufen?, denke ich, obwohl ich das Adrenalin in allen Muskeln spüre. Niemand kann uns hier finden, niemand wird uns ein Haar krümmen. Wir sind entkommen, wir sind frei. Ich starre in den Sternenhimmel, frage mich, ob wir einen ab- oder einen zunehmenden Mond sehen. »Daniela. Ein paar Minuten Fußmarsch, und dann sind wir beim Militär!«
Ich erhebe mich widerwillig. Der Sack schneidet in meine Schulter. Ich schaue den Mond an und weiß, in der Schweiz ist es gleich 22 Uhr, vielleicht erinnert meine Mama sich an meine Bitte, sie solle den Mond betrachten, vielleicht steht sie oben am Schlafzimmerfenster und sieht hinaus, spürt, dass wir auf der Flucht sind, dass wir unterwegs sind zu ihr, nach sechstausendzweihundertdreißig Stunden. »We are coming home!«, das Lied, das ich so oft vor mich hin gesungen habe, um mich zu belügen – jetzt könnte es wahr werden. Wenn ich mich nur endlich aufraffen könnte.
David ist schon hinter der Kante verschwunden, er hastet den Abhang hinunter, stürzt, kugelt sich, rutscht und springt wieder auf die Füße, unempfindlich geworden gegen die scharfkantigen Steine. Ich rutsche ebenfalls in dem bröseligen Schutt Richtung Tal.
David hat die Teerstraße erreicht und läuft in einem kontrollierten Trab die leichte Steigung hinauf, während ich plötzlich keine Luft mehr bekomme. Als Kind litt ich unter Asthma. Meine Bronchien verengten sich oft ohne Vorwarnung, und mit einem pfeifenden Geräusch musste ich Sauerstoff durch den Engpass in meine Lungen ziehen, immer in der panischen Angst, dieser Strom könnte versiegen. So ergeht es mir jetzt wieder, zum ersten Mal nach vierzehn Jahren, nach zehn Halb- und Bergmarathons, nach Tausenden von Trainingskilometern, die ich jährlich abgespult habe. Ich renne ein paar Meter, dann muss ich wieder gehen. Meine Muskeln sind hart, die Knie schlottern.
David steht am Straßenrand und wartet. »Was ist? Das hier ist der gefährlichste Punkt.«
»Ich kann nicht rennen.«
»Es sind nur hundert Meter, wir müssen nur diese Gerade schaffen.«
David versucht, mich zu stützen, zu ziehen, mir immer wieder Mut zu machen.
Dann springt er vor mir eine drei Meter hohe Stützmauer hinunter, landet im Sand und lässt sich Richtung Tal rutschen. Es sieht leicht und anstrengungslos aus, und so lasse ich mich ebenfalls fallen. Kühl an
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