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...und noch ein Küsschen!

...und noch ein Küsschen!

Titel: ...und noch ein Küsschen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roald Dahl
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mitten im Bett stand, und schüttelte zuerst das eine, dann das andere Bein heftig in der Luft. In diesem Augenblick dachten wir beide, er sei gebissen worden, und Ganderbai suchte bereits in seiner Tasche nach einem Skalpell und einer Aderpresse. Plötzlich aber hörte Harry mit seinen Luftsprüngen auf. Er betrachtetedie Matratze, auf der er stand, und rief: «Sie ist nicht da!»
    Ganderbai richtete sich auf und betrachtete ebenfalls die Matratze. Dann sah er Harry an. Harry war unversehrt. Er war nicht gebissen worden, er würde nicht gebissen werden, er brauchte nicht zu sterben, und alles war gut. Aber das schien keinen von uns zu beruhigen.
    «Mr.   Pope, Sie sind natürlich
ganz
sicher, dass Sie die Bungar gesehen haben?» In Gänderbais Stimme lag eine Spur von Sarkasmus – was unter normalen Umständen bei ihm undenkbar gewesen wäre. «Sie glauben nicht, Mr.   Pope, dass Sie geträumt haben könnten, nicht wahr?» Die Art, wie er Harry ansah, verriet mir, dass der Sarkasmus nicht als Beleidigung gemeint war. Ganderbai machte sich nach der Nervenprobe nur etwas Luft. Harry stand in seinem gestreiften Pyjama auf dem Bett und starrte den Arzt an, während ihm das Blut in die Wangen stieg.
    «Wollen Sie etwa behaupten, dass ich ein Lügner bin?», brüllte er.
    Ganderbai blickte schweigend zu ihm auf. Harry trat einen Schritt auf dem Bett vor. In seinen Augen war ein seltsames Funkeln.
    «Sie dreckiges indisches Mistvieh!»
    «Halt den Mund, Harry!», rief ich.
    «Sie dreckiges schwarzes   …»
    «Harry!», schrie ich. «Halt den Mund, Harry!» Es war schrecklich, was er alles sagte.
    Ganderbai ging aus dem Zimmer, als wären Harry und ich nicht vorhanden. Ich eilte ihm nach und legte ihm den Arm um die Schultern, als wir die Diele überquerten und auf die Veranda hinaustraten.
    «Hören Sie nicht auf Harry», bat ich. «Die Sache hat ihn fertiggemacht. Er weiß nicht mehr, was er sagt.»
    Wir gingen die Verandatreppe hinunter zur Auffahrt, wo in der Dunkelheit Ganderbais alter Morris stand. Er öffnete die Tür und stieg ein. «Sie haben großartige Arbeit geleistet», beteuerte ich. «Vielen herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind.»
    «Alles, was er braucht, ist ein langer Urlaub», sagte er ruhig, ohne mich anzusehen. Dann ließ er den Motor an und fuhr los.

Der Wunsch
    Der Junge strich zufällig mit der Hand über sein Bein, und dabei geriet er an die verschorfte Stelle auf der Kniescheibe. Er beugte sich vor, um sie zu untersuchen. Schorf war etwas, was man einfach anfassen
musste
; er hatte dieser Verlockung noch nie widerstehen können.
    Ja, dachte er, ich werde es abkratzen, auch wenn es noch nicht so weit ist, auch wenn es in der Mitte noch festklebt, auch wenn es wehtut wie sonst was.
    Mit dem Fingernagel tastete er vorsichtig um den Rand herum. Dann schob er den Nagel darunter, und auf einmal – er brauchte kaum nachzuhelfen – löste sich der Schorf. Der ganze harte braune Schorf ging glatt ab und enthüllte ein rundes Fleckchen zarter rosa Haut.
    Gut. Wirklich sehr gut. Er rieb die Stelle, und sie tat nicht weh. Er nahm den Schorf, legte ihn sich auf den Schenkel und schnippte ihn mit dem Finger fort, sodass er durch die Luft flog und auf dem Teppich landete, auf diesem riesigen roten, schwarzen und gelben Teppich, der die Diele von der Treppe bis zur Haustür bedeckte. Ein gewaltiger Teppich. Größer als der Tennisplatz. Viel größer. Er betrachtete ihn ernst, ließ den Blick mit stillem Vergnügen auf ihm ruhen. Bisher hatte er ihn nie richtig angesehen, aber jetzt leuchteten die Farben plötzlich geheimnisvoll auf und sprangen ihm geradezu in die Augen.
    Ja, sagte er sich, ich weiß, wie es ist. Die roten Teile des Teppichs sind glühende Kohlestücke. Was ich tun muss, ist dies: Ich muss den ganzen Weg bis zur Haustür gehen, ohne sie zu berühren. Wenn ich auf Rot trete, verbrenne ich. Wirklich, dann verbrenne ich ganz und gar. Und dieschwarzen Teile des Teppichs   … ja, das sind Schlangen, giftige Schlangen, Kreuzottern und Kobras, manche so dick wie Baumstämme. Wenn ich auf eine von ihnen trete, werde ich gebissen und muss noch vor dem Tee sterben. Und wenn ich heil hinüberkomme, ohne zu verbrennen und ohne gebissen zu werden, dann kriege ich morgen zum Geburtstag einen jungen Hund.
    Er stand auf und stieg ein paar Stufen höher, um dieses riesige Gewebe aus Farbe und Tod besser überblicken zu können. Würde er es schaffen? War genug Gelb da? Gelb war die einzige Farbe, auf

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