...und noch ein Küsschen!
dadurch auch eine beträchtliche politische Machtstellung erworben. Gewiss, das ist auch schon anderen Frauen gelungen, aber Lady Turtons Fall ist insofern ungewöhnlich, als sie Ausländerin ist und niemand recht zu wissen scheint, aus welchem Lande sie stammt – aus Jugoslawien, Bulgarien oder Russland.
Am letzten Donnerstag also war ich bei LondonerFreunden zu einer kleinen Abendgesellschaft geladen. Als wir vor dem Dinner im Salon standen, einen Martini tranken und über die Atombombe und Mr. Bevan sprachen, steckte das Mädchen den Kopf herein, um den letzten Gast anzukündigen.
«Lady Turton», meldete sie.
Niemand hörte auf zu reden; dazu waren wir alle zu gut erzogen. Keine Köpfe fuhren herum. Nur unsere Blicke gingen zur Tür und warteten auf ihr Erscheinen.
Sie trat ein, groß und schlank, in einem rotgoldenen glitzernden Kleid, und ging schnell, mit lächelndem Mund und ausgestreckten Händen auf die Gastgeberin zu.
«Mildred, guten Abend!»
«Meine liebe Lady Turton! Wie reizend!»
Ich glaube, jetzt hörten wir tatsächlich auf zu reden und fuhren herum. Wir starrten sie an und warteten ganz bescheiden darauf, ihr vorgestellt zu werden, als wäre sie die Königin oder ein berühmter Filmstar. Aber sie sah besser aus als die Königin oder ein Filmstar. Sie hatte schwarzes Haar und eines jener blassen, ovalen, unschuldigen Gesichter, wie man sie bei den Madonnen flämischer Maler des fünfzehnten Jahrhunderts findet. Ja, sie hätte von Memling oder van Eyck gemalt sein können. Jedenfalls war das mein erster Eindruck. Später, als ich an die Reihe kam, sie zu begrüßen, stellte ich fest, dass ihr Gesicht – bis auf die Konturen und die Farbgebung – keineswegs das einer Madonna war. Ganz im Gegenteil.
So hatte sie beispielsweise sehr merkwürdige Nasenflügel, die überaus stark geschwungen waren und dabei so gebläht, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Die Nase bekam dadurch etwas Witterndes, Schnaubendes, das irgendwie an ein wildes Tier erinnerte – an einen Mustang.
Und ihre Augen waren, aus der Nähe betrachtet, nichtgroß und rund, wie die Madonnenmaler sie malten, sondern länglich und schmal, halb lächelnd, halb mürrisch und ein wenig ordinär, sodass sie fast etwas verworfen wirkte. Überdies sah sie einen nie offen an. Der Blick kam langsam von der Seite, mit einer eigenartig gleitenden Bewegung, die mich beunruhigte. Ich versuchte, die Farbe ihrer Augen zu ergründen, hielt sie für hellgrau, war mir aber nicht sicher.
Dann wurde sie zu anderen Gästen geführt, um deren Bekanntschaft zu machen. Ich blickte ihr nach. Offensichtlich war sie sich ihres Erfolges bewusst und genoss es, von diesen Londonern umschmeichelt zu werden. ‹Schaut mich an›, schien sie zu sagen, ‹ich bin erst vor wenigen Jahren hergekommen, aber schon jetzt bin ich reicher und mächtiger als irgendeiner von euch.› In ihrem Gang lag etwas Triumphierendes.
Ein paar Minuten später begaben wir uns ins Speisezimmer, und zu meiner Überraschung saß ich zur Rechten Ihrer Ladyschaft. Vermutlich hatte unsere Gastgeberin das so arrangiert, weil sie mir Gelegenheit geben wollte, Material für die Gesellschaftsspalte zu sammeln, die ich jeden Tag für eine Abendzeitung schreibe. Ich machte mich auf eine anregende Unterhaltung gefasst. Aber die berühmte Dame beachtete mich überhaupt nicht; sie sprach ausschließlich mit ihrem Nachbarn zur Linken, dem Gastgeber. Erst gegen Ende der Mahlzeit – ich war gerade mit meinem Eis fertig – wandte sie sich plötzlich um, streckte die Hand aus, nahm meine Tischkarte und las den Namen. Dann richtete sie ihren Blick mit jener eigenartig gleitenden Bewegung der Augen auf mich. Ich lächelte und deutete eine Verbeugung an. Ohne mein Lächeln zu erwidern, begann sie mit einer seltsam plätschernden Stimme Fragen auf mich abzufeuern, ziemlich persönliche Fragen – Beruf, Alter, Familieund dergleichen –, die ich beantwortete, so gut ich konnte.
Bei diesem Verhör erfuhr sie unter anderem von meinem Interesse für Malerei und Bildhauerkunst.
«Dann sollten Sie uns einmal auf dem Land besuchen und sich die Sammlung meines Mannes ansehen.» Sie sagte das nur als Gesprächsfloskel, aber ich kann es mir in meinem Beruf nicht erlauben, eine solche Chance ungenutzt zu lassen.
«Ich wüsste nicht, was ich lieber täte, Lady Turton. Sehr freundlich von Ihnen. Wann darf ich kommen?»
Ihr Kopf fuhr hoch. Sie zögerte, runzelte die Stirn, zuckte die Achseln. «Ach,
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