...und noch ein Küsschen!
Chloroform in den Papiertrichter und wartete, bis sie durch den Schlauch gelaufen waren. Dann goss er einige Tropfen nach und wartete abermals. Der schwere süßliche Geruch des Chloroforms breitete sich im Zimmer aus und weckte unangenehme Erinnerungen an weißgekleidete Schwestern und Ärzte, die in einem weißen Raum um einen langen weißen Tisch standen. Ganderbai goss jetzt schneller nach, und ich sah den schweren Dunst des Chloroforms wie Rauch über dem Papiertrichter wallen. Nach einiger Zeit hielt Ganderbai die Flasche gegen das Licht und entschloss sich, den Trichter noch einmal zu füllen, bevor er sie mir zurückgab. Dann zog er den Gummischlauch langsam unter dem Laken hervor und stand auf.
Offenbar war es eine große Anstrengung für ihn gewesen, den Schlauch vorzuschieben und das Chloroform einzugießen, denn seine Stimme klang matt und erschöpft, als er sich umdrehte und mir zuraunte: «Wir werden eine Viertelstunde warten. Um ganz sicherzugehen.»
Ich beugte mich über Harry. «Wir werden eine Viertelstunde warten, um ganz sicherzugehen. Aber wahrscheinlich ist es schon geschafft.»
«Zum Donnerwetter, warum seht ihr dann nicht nach?» Wieder sprach er laut. Ganderbai fuhr herum. Seine Miene war plötzlich sehr zornig. Er hatte fast schwarze Augen, mit denen er Harry anstarrte. Harryskleiner Muskel begann wieder zu zucken. Ich nahm mein Taschentuch, trocknete sein nasses Gesicht, und strich ihm beruhigend über die Stirn.
Schweigend warteten wir neben dem Bett. Ganderbai blickte Harry unverwandt und seltsam eindringlich an. Der kleine Inder konzentrierte seine Willenskraft darauf, Harry ruhig zu halten. Er ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen, und obgleich er keinen Laut von sich gab, schien er dauernd zu rufen: Hören Sie mir zu, Sie müssen mir zuhören, Sie dürfen jetzt nicht alles zunichte machen, hören Sie? Und Harry lag mit zuckendem Mund da und schwitzte. Seine Lider waren meistens geschlossen, und wenn er sie öffnete, sah er entweder mich an oder das Laken oder die Zimmerdecke, aber niemals Ganderbai. Und doch wurde er irgendwie von Ganderbai beherrscht. Der durchdringende Chloroformgeruch ließ ein Gefühl der Übelkeit in mir aufsteigen, aber ich konnte jetzt unmöglich aus dem Zimmer gehen. Mir war, als würde vor meinen Augen ein Ballon aufgeblasen, der immer mehr anschwoll, während ich ihn wie gebannt anstarrte und wartete, dass er zerplatzte.
Endlich drehte sich Ganderbai um und nickte. Es war so weit. «Gehen Sie an die andere Bettseite», sagte er. «Wir nehmen jeder einen Zipfel des Lakens und ziehen es zurück. Aber bitte sehr langsam, sehr vorsichtig.»
«Lieg jetzt ganz still, Harry», ermahnte ich ihn und ging um das Bett herum. Ganderbai stand mir gegenüber. Wir ergriffen das Laken an den beiden oberen Zipfeln, hoben es leicht von Harrys Körper ab und zogen es Zentimeter für Zentimeter zurück. Dabei gaben wir acht, dass wir nicht zu nah an das Bett herankamen, beugten uns jedoch vor und versuchten, unter das Laken zu schauen. Der Chloroformgeruch war ekelhaft. Ich erinnere mich, dass ich die Luft so lange wie möglich anhielt,und als das nicht mehr ging, bemühte ich mich, flach zu atmen, damit mir das Zeug nicht in die Lungen drang.
Harrys Brust – besser gesagt, seine gestreifte Pyjamajacke – war jetzt freigelegt. Dann sah ich das weiße Band der Pyjamahose, sauber zu einer Schleife gebunden. Etwas weiter unten tauchte ein Knopf auf, ein Perlmuttknopf. Ich habe noch nie einen Pyjama gehabt, dessen Schlitz mit einem Knopf zu schließen war, geschweige denn mit einem Perlmuttknopf. Dieser Harry, dachte ich, ist doch ein richtiger Stutzer. Es ist merkwürdig, dass einem manchmal in den aufregendsten Situationen solche albernen Gedanken kommen. Ich weiß noch genau, dass ich Harry für einen Stutzer hielt, als ich diesen Knopf sah.
Außer dem Knopf war nichts auf seinem Bauch.
Nun zogen wir das Laken schneller zurück, und als wir die Beine und die Füße aufgedeckt hatten, ließen wir es auf den Boden fallen.
«Bewegen Sie sich nicht», sagte Ganderbai. «Bewegen Sie sich nicht, Mr. Pope.» Er versuchte, unter Harrys Körper zu spähen.
«Wir müssen vorsichtig sein», erklärte er. «Sie kann überall stecken. Vielleicht ist sie ins Hosenbein des Pyjamas gekrochen.»
Diese Worte bewirkten, dass Harry hastig den Kopf vom Kissen hob und an sich hinuntersah. Es war das erste Mal, dass er sich bewegte. Dann sprang er mit einem Satz auf, sodass er nun
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