Und sie wunderten sich sehr
Vaterschaft so selbstverständlich sein kann. Wir schlendern gemeinsam durch den Park, mit dem ihn zahlreiche Kindheitserinnerungen verbinden. Er sieht noch die alte Ruinenlandschaft, die Schutthügel, in denen er gespielt hat. Damals.
Als er vor fast sieben Jahrzehnten zur Welt kam, so konnte ihm seine Mutter immer wieder neu erzählen, da fielen brennende Christbäume aus den Flugzeugen. So nannten die Leute die Leuchtmarkierungen der Bomberverbände – Christbäume, todbringende Christbäume. Die |16| Mutter spürte damals in solchen Bombennächten das Kind in sich wachsen, und sie ahnte wohl schon, dass sein Vater, der irgendwo an der Ostfront kämpfte, aus dem gnadenlosen Krieg nicht lebend zurückkehren würde. Auf diese Geschichte hatte sich das Erinnerungsvermögen der Mutter im Laufe der Jahre eingespielt. Die erzählte sie ihrem Sohn wieder und wieder.
Der Junge wuchs im Nachkriegsmangel auf. Der Vater war anwesend in Gestalt eines schwarz umrandeten Porträtfotos auf dem Küchenbuffet. Liebevoll wischte die Mutter den Staub darum herum, liebevoll wurden die Blumen aus dem Garten der Großmutter ausgesucht, wenn der Kalender Geburtstag oder Hochzeitstag anzeigte. Sie hatte nie wieder geheiratet.
An den Weihnachtstagen stand die Krippe, bestehend aus der geschnitzten Familie und einigen mit Wollresten beklebten Schäfchen, ganz nah beim Bild des Vaters. In der Kirche sangen sie: »Er kommt aus seines Vaters Schoß und wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend nackt und bloß in einem Krippelein …«
Und der Junge spürte: Er selbst war noch ärmer dran als das Jesuskind. Denn er muss so gänzlich ohne einen Joseph, ohne den Vater, hier sitzen. Da hatte das kleine Christkind ihm wirklich etwas voraus. Es hatte ja gleich zwei Väter. Der Joseph auf dem Küchenbuffet schien alle Zeit der Welt zu haben, seinem Jungen beim Wachsen und Werden zuzusehen. Alle Geduld und aller Schmerz über das, was war und was – die Gesichtszüge lassen es schon ahnen – kommen wird, sind eingeschnitzt in die Züge des Josephgesichts.
Der halb verwaiste Junge kannte jeden Winkel in diesem Gesicht. Aber den eigenen Vater, den er so sehr entbehrte, den kannte er nicht. Er wusste nicht einmal, wer ihm eigentlich fehlte. Nur dass ihm jemand fehlte, war so klar wie der Glasrahmen mit dem Bild des Vaters. Die Erinnerungen der Mutter, die sie ihm immer und immer wieder erzählte, die er immer und immer wieder hören wollte, wurden |17| zur standardisierten Geschichte. Sie waren die einzige Möglichkeit, den Vater und Ehemann gegenwärtig zu halten, und sei es auch nur in den immer wieder mit denselben Worten erzählten Szenen. Triviale Szenen aus dem Leben des nur kurz zusammengekommenen Paares. Neue konnte man sich ja schlecht ausdenken …
Aus dem Schuljungen wurde ein Konfirmand und später ein Student. In der stickigen Geistes-Enge der DDR eckte er an, flog Anfang der 60er Jahre von der Universität, suchte Schutz und Freiheit gleichermaßen in einem Seminar zur Ausbildung von Pfarrern und Pfarrerinnen. Nicht nur dort sehnte er sich in den schwärzesten und ohnmächtigsten Stunden immer wieder nach einem Vater, der ihm den Rücken gestärkt oder – ja – ihn vielleicht auch hier und da mal zur Zurückhaltung gerufen hätte.
Es ehrte und schmerzte ihn, wenn seine Mutter kopfschüttelnd meinte: »Dass du immer mit dem Kopf durch die Wand musst – wie dein Vater!« Es ehrte und schmerzte ihn aber auch, wenn seine Mutter feststellte: »Du hast die Handschrift deines Vaters.«
Stolz und Traurigkeit waren eins. Der vaterlose junge Mann heiratete und wurde schließlich selbst Vater. Auf seiner Hochzeit und bei der Taufe des ersten Sohnes wurde das Bild des Vaters vom Küchenbuffet mit aufgestellt – gut sichtbar für Familie und Gäste. Alle wussten: Einer fehlt – und das ist die Normalität.
Was ebenso fehlte, war ein Grab. Je älter er wurde, desto mehr spürte er die Macht dieser Leerstelle und desto begreiflicher wurde ihm der alte Kummer seiner Mutter. Wo ist mein Vater, wo kann ich ihn betrauern? Am Küchenbuffet geht das nicht immer.
Es war nicht viel, was sie wussten. Irgendwo in Weißrussland hatte sich die Spur des Vaters verloren. Die Kriegsgräberfürsorge hatte keinen Zugang zu den gefallenen Soldaten. In den Weiten und Sümpfen Weißrusslands lagen und liegen sie zum Teil noch immer ohne Gräber. Jede dritte weißrussische Familie hat selbst ein Kriegsopfer |18| zu beklagen. Das Trauma ist noch
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