Der Verlobte
Es war bereits gegen acht Uhr am Abend, als sein Navigationssystem immer wieder »Bitte wenden!« von sich gab. Lilly räkelte sich auf dem Beifahrersitz und blinzelte ihn verschlafen an. Das Velours der Autopolster hatte ein dezentes Muster auf ihrer Wange hinterlassen.
»Bitte geben Sie ein neues Fahrtziel ein!«, verlangte der elektronische Wegweiser.
Seufzend stellte er das Navigationssystem ab und schaute forschend hinaus in die gottverlassene Gegend. Links ging es einen steilen Abhang hinunter, und zur Rechten konnte man nur Wiesen und in der Ferne ein paar Bäume ausmachen. Kein Wunder, dass dieses öde Stück Erde ein weißer Fleck auf der Landkarte war.
Lilly gähnte ausgiebig.
»Ich habe überhaupt keine Ahnung, wo wir hier sind«, gestand er.
»Aber ich«, sagte Lilly. »Dort vorne rechts musst du rein.« Sie kniff die Augen zusammen und zeigte auf einen unbeschilderten Abzweig. »Diese Straße da.«
Die sogenannte Straße war nicht mehr als ein schmaler Weg, der in einen düsteren Wald führte. Er konnte nur hoffen, dass ihm niemand entgegenkommen würde. Das Fernlicht machte aus Bäumen und Unterholz ein gespenstisches blaugraues Dickicht. Er rieb sich die Augen.
»Wart ’ s ab! Gleich sind wir da«, versprach Lilly und reckte ihren hübschen Lockenkopf.
Als sie kurz darauf den Wald hinter sich ließen, war die Landschaft bereits in Dunkelheit getaucht. Nur in der Ferne tänzelten einige funzelige Lichter. Beim Näherkommen erkannte er, dass es altmodische Gaslaternen waren, die in regelmäßigen Abständen an einem hohen Zaun hingen. Sie schienen ein Anwesen zu begrenzen.
»Da, das Tor ist offen«, sagte Lilly. »Du kannst hineinfahren und dort am Stall halten.«
Er konnte nicht erkennen, welches der vielen vor ihnen liegenden Gebäude der Stall war, tippte aber auf eines der beiden niedrigen Gebäude, die sich neben dem herrschaftlichen Haupthaus duckten. Im Übrigen hatte er keine große Auswahl, da überall wild durcheinander Autos parkten. Er zwängte sich an einem großen Jeep vorbei und brachte den Wagen auf dem knirschenden Kies zum Stehen.
»Guck doch nicht wie ein kastriertes Karnickel«, sagte Lilly lachend. »Spiel einfach nur mit, und denk an unsere Abmachung!«
Er nickte, nahm seine kleine Reisetasche vom Rücksitz und folgte ihr knirschenden Schrittes bis zu der Freitreppe, die zum Eingang des Hauptgebäudes führte. Auch die Treppengeländer waren von zahlreichen kleinen Gaslaternen beleuchtet und einen Moment lang fragte er sich, wie lange es wohl dauerte, allabendlich jede einzelne dieser Lampen anzuzünden. Sicher gab es hier für solche Aufgaben Personal.
Als er die Treppenstufen hinaufstieg, schluckte er den Kloß im Hals herunter. Ja, er würgte geradezu daran, bis das geballte Unwohlsein nach unten rutschte und ein mulmiges Gefühl im Bauch zurückblieb. Lampenfieber. Dagegen gab es nur ein Mittel: Raus auf die Bühne!
Es blieb ihm auch gar keine weitere Zeit mehr zur Analyse komischer Gefühle, denn die große Eingangstür öffnete sich wie von Geisterhand und Lilly verschwand dahinter. Er stolperte hinter ihr her in eine imposante Eingangshalle, in der eine würdige alte Dame mit weißem Dutt und schwarzem, wallendem Gewand die hübsche junge Frau herzte. Abrupt schob sie Lilly von sich und blickte ihn durch altmodische runde Brillengläser an.
»Das ist er also«, stellte sie fest. »Treten Sie mal näher, junger Mann!«
Er gab artig die Hand, was die alte Dame mit einem festen Händedruck erwiderte.
»Tillmann Förster«, sagte er. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen …«
»Abwarten«, entgegnete sie. »Vielleicht freuen Sie sich nicht allzu lange darüber.« Dann fügte sie streng hinzu: »Schließlich haben Sie gerade die Großmutter Ihrer Liebsten frech angelogen. Sie freuen sich im Moment kein bisschen!«
Lilly kicherte albern, und er warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Die ganze Situation war doch eher peinlich als lustig.
»Kommt Kinder!« Die Großmutter klatschte in die Hände. »Ihr werdet schon ungeduldig erwartet.«
Sie ließen ihr Gepäck in der Halle zurück und folgten der alten Dame in einen Raum, in dem sich sofort zahlreiche Augenpaare auf sie hefteten.
»Na, da hat diese ganze Aperitifsauferei ja nun bald ein Ende! Zum Glück! Ich mag dieses ganze Zeug einfach nicht.« Ein imposanter älterer Herr, offensichtlich der Großvater und Hausherr, trat auf sie zu und küsste Lilly schmatzend. Dann sah er ihn an. »Der soll es also
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