Und sie wunderten sich sehr
Marias, facettenreich und bunt gemalt. Regelrecht verehrt wurde diese Anna im 15. und 16. Jahrhundert, wahrscheinlich die Lieblingsheilige von Martin Luther. Anna war die Schutzheilige aller Mütter, aller Armen, aber auch der Bergleute und der Handelsleute. Ganz schön prominent, wenn man bedenkt, dass sie erst im zweiten Jahrhundert in einem Evangelium, das sich nicht in der Bibel befindet, nämlich dem des Jakobus, |139| erwähnt wird. Wer weiß, vielleicht hieß sie noch nicht einmal Anna … Die Forschung hat, was den tatsächlichen Namen angeht, gewisse Zweifel. Jedenfalls steckt das hebräische Wort der »Gnade« in dem Namen »Anna«. Anna – auf ihre Weise begnadet vom Leben oder von Gott selbst.
Auch Tilman Riemenschneider muss von dieser Anna, der Großmutter Jesu, tief geprägt gewesen sein. Er hat sie in Holz geschnitzt, aber nicht sie allein, sondern im Kreis ihrer – drei – Ehemänner. Eine »heilige Sippe«. Nach dem Tod ihres ersten Mannes, Joachim, soll sie noch zwei weitere Ehemänner gehabt haben – Kleophas und Salomas.
Riemenschneiders Kunstwerk von Anna und ihren drei Männern steht im Bode-Museum auf Berlins Museumsinsel. Ich sehe die beiden, Lola und ihre Oma, vor Riemenschneiders Werk stehen und höre Lolas Großmutter sagen: »Familien können so verschieden sein; man ist nie damit fertig …«
Ich sehe die alleinerziehende Frau Anfang 60 und kann die Gnade erkennen, die ihr noch einmal im Leben die Hände gefüllt hatte, auch mit Aufgaben, Verantwortung und Verpflichtungen.
Ich sehe Lola, die sich wünscht, was viele Kinder für das Selbstverständliche halten, und die doch ahnt, was die Oma in ihrem Leben bedeutet. Lolas Sehnsucht wird bleiben, aber sie wird getragen sein von einem Verstehen, das mehr und mehr wächst.
Und ich sehe »Anna selbdritt«. Das ist die Bezeichnung von Bildnissen, auf denen Anna, Maria und Jesus gemeinsam zu sehen sind. Solche Bilder gehören zum Genre der Andachtsbilder. Dürer hat in besonderer Weise ein solches Bild der drei entworfen. Solche Andachtsbilder sollten beim Betrachter ein Mitfühlen und ein Versenken in die Möglichkeiten Gottes eröffnen. Mein inneres Andachtsbild sieht Oma, Katharina und Lola gemeinsam, einander zugewandt. |140| Eines Tages wieder miteinander verbunden, versöhnt über dem, was geschehen ist. Wie gesagt, ein Bild der Möglichkeiten Gottes auch heute noch. Eben »Anna selbdritt«.
Gepuppt und gewiegt
Da wurde erfüllt, was durch den Propheten Jeremia
geredet ist, der spricht: Eine Stimme ist in Rama
gehört worden, Weinen und viel Wehklagen:
Rahel beweint ihre Kinder und sie wollte sich nicht
trösten lassen, weil sie nicht mehr sind.
Matthäus 2,17.18
Das Jesuskind spielt mit der Weltkugel. Allein die linke Hand genügt für das Gewicht dieser Kugel. Der später selbst zum Spielball dunkler Weltenmächte wird, kann noch mit dieser Welt spielen. Nur ein Säugling vermag das – die Spannung zwischen seliger Machtlosigkeit im Blick eines Kindes einerseits und einer nach menschlichem Maß viel weiter gehenden, aber letztlich doch begrenzten Macht einer ganzen Welt andererseits: Macht und Machtlosigkeit neu verteilt, in der Hand eines Kindes – für den Wimpernschlag eines Augenblicks. Bild tiefster Sehnsucht und damit höchster Frömmigkeit: Was gibt es Besseres, als die Welt in die Hand eines Kindes zu legen? Der Jesusknabe mit der Weltkugel ist nicht nur ein beliebtes Motiv auf Gemälden und Stichen, sondern hat eine umfassende figurale Kunst hervorgebracht. Vor wenigen Jahren wurde bei Ausgrabungen die »Sensation« einer rund 500 Jahre alten tönernen Jesusfigur bekannt gegeben, nur 65 Millimeter klein. Der sanfte Weltenherrscher, genauer: der Weltenspieler, ein anmutiges Püppchen. Genau weiß man nicht, ob es im 15. oder 16. Jahrhundert tatsächlich ein Spielgegenstand war.
Die Grenzen zwischen Spiel und Kult sind hier fließend. Nonnen sollen im 15. Jahrhundert in Klöstern Christkindpuppen |141| – mit und ohne Weltkügelchen in der Hand – gewiegt und versorgt haben. Das Bild der gewiegten Christkindpuppen berührt dort, wo Erfahrungen von Fürsorge, Gehaltensein und Liebe wachgerufen werden. Es provoziert dort, wo diese Erfahrungen gefehlt haben und die Fehlstelle ein Leben lang bleibt. Das habe ich in drei Begegnungen mit einer Frau erfahren, die gerade ihr siebentes Lebensjahrzehnt erreicht hat.
»Wie konnten Sie es wagen …!? Sie haben mich persönlich brüskiert, mich und eine ganze
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