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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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geahnt.
    |134| Katharina hatte noch im Krankenhaus Hilfe erhalten. Eine Unterkunft vom Amt – für sich und das Baby. Diese Unterkunft hatte sie allerdings ebenso schnell verlassen, wie sie eingezogen war. Abermals eine Flucht – zu jemandem, den sie nur allzu gern als Freund gesehen hatte. Er muss mindestens ebenso unvorbereitet auf die Geburt gewesen sein wie sie. Als das Baby da war, ging es meiner Tochter noch viel schlechter. Das Geschrei der beiden Erwachsenen und die ersten zarten Töne des Kindes haben wenig später die Nachbarn alarmiert. Erst Monate danach erzählte mir die Frau vom Jugendamt: Die überforderte Mutter habe ein Fläschchen mit Wasser an die Gitterstäbe des Babybettchens gebunden. Daraus hätte Charlotte trinken sollen. So erklärte zumindest Katharina es nachträglich. Keine 20 Tage alt, das Baby! Charlotte wäre beinah verdurstet. Sie überlebte die nächsten Wochen nur, weil jemand Alarm geschlagen hatte.
    Als mich das Jugendamt aus München anrief und bat, ich möge kommen, saß ich am selben Nachmittag im Zug. Alles, was ich in diesen Momenten wusste, passte eigentlich auf eine Postkarte: Katharina ist wieder im Krankenhaus in psychiatrischer Behandlung. Das Baby, ihr Baby, liegt intensivmedizinisch betreut in der Kinderklinik. Wohin zuerst?
    Als ich Charlotte das erste Mal in der Kinderklinik sah, fiel mir ein, wo ich diesen schönen alten Namen schon einmal gehört hatte. Die schönste und liebste Puppe von Katharina – zwei Jahrzehnte war das her – trug damals denselben Namen. Ich erinnerte mich mit einem Mal deutlich an die braunen Kunsthaare, die steifen Glieder und den weichen Bauch der Puppe. Auf jeden Weg hatte Katharina sie mitgeschleppt. Auf dem Spielplatz wurde sie in die Sonne gesetzt und abends mit gebadet. Ganz abgegriffen sah sie irgendwann aus. Schließlich war sie verschwunden. Arme Katharina! Zum Kummer des Verlusts kam damals noch mein ganz und gar unmütterliches Geschimpfe dazu:
    ›Kannst du nicht einmal auf deine Sachen achtgeben?!‹
    |135| ›Dir schenke ich nichts mehr, du verbummelst ja nur alles …!‹
    Ob sich Katharina an meinen Ärger und die Enttäuschung noch erinnern kann?

    Die Charlotte, auf die ich jetzt sah, war meine Enkelin! Im Wärmebettchen – an viele Schläuche und eine Ernährungssonde angeschlossen. Jeder Atemzug schien ein Zeichen zu sein:
    ›Schaut her, ich bin stärker, als ihr meint …‹
    Ich hatte keinerlei Erinnerung mehr daran, wie klein Babys in ihren ersten Wochen sind. Verschwommen auch die Erinnerung an die weiche Haut, die allerkleinsten Fingerkuppen, das Zucken um die Mundwinkel, wenn sie schlafen.
    Als ich Charlotte das erste Mal streicheln durfte, war es, als fiele mir alle Wärme und Liebe ins Herz, die mir für so viele Jahre gefehlt hatten. Für alle Fehlentscheidungen, falschen Wege, für alles, was falsch und schiefgelaufen war, wurde uns jetzt ein Kind geschenkt? Einfach so? Tief beschämt und beglückt zugleich, brauchten die Sorgen nicht lange, um sich bei mir zu melden: Was sollte jetzt werden? Wann kann Katharina wieder Kraft finden, für Charlotte da zu sein? Sie war doch schon sich selbst zu viel.
    Ich sehe mich noch auf dem Weg aus der Kinderklinik zurück zum Jugendamt. Dort musste ein Gespräch gewissermaßen die Zukunft klären – die Zukunft von Charlotte und auch die von Katharina. Gern hätte ich mich auf dem Weg dorthin mit einem Menschen beraten, gern mit jemandem, der mich versteht, noch einmal alles angeschaut, was so unerwartet geschehen war. Dazu war keine Gelegenheit. Ich war allein in der Stadt unterwegs. Nieselwetter und kriechende Dunkelheit in Straßen, die ich nicht kannte. Würden Vorwürfe gegen mich und mein Verhalten im Raum stehen? Schlimm genug, dass Katharina gar nicht lange gezögert hatte, Charlotte zur Adoption freizugeben. Und ich? Würde ich wieder alles falsch machen? Ich habe |136| die Fragen hinter mir hergeschleppt – rein durch die offene Tür des Jugendamtes.
    Zwei Stunden später sah ich klar: ›Ich kann für Charlotte sorgen.‹
    Nicht einen Moment habe ich an das Theater und meine Arbeit in Berlin gedacht … Jetzt war einfach noch nicht der Zeitpunkt dafür.
    Was für ein Geschenk, dass ich auch nachts in der Klinik ganz nah bei Charlotte bleiben durfte. Wann immer ich wollte, durfte ich zu ihr gehen. Es dauerte keine zwei Tage, da konnte ich diese alten Handgriffe wieder: wickeln und halten. Als die Ernährungssonde abgenommen werden konnte, lernte ich wieder,

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