Und trotzdem ist es Liebe
Stunden nach dem Rasieren. Mit ihm im Auto zu sitzen. Weihnachtsmusik zu hören. Alles mit Ben fühlt sich neu und heilig und erhaben an. Ich glaube, das wird noch lange so sein. Vielleicht immer.
Eine halbe Stunde später verlassen wir den Long Island Expressway und fahren auf Huntington zu. Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Ben zeigt auf die dünne Mondsichel und die zahllosen Sterne, die man in Manhattan nicht sehen kann. Die Sterne sind das Beste an den Vororten, sinniere ich laut. Ben findet das auch – aber dann fügt er hinzu: «Das ist allerdings kein Grund, aus der Stadt wegzuziehen.»
Seit unserem Wiedersehenslunch macht er dauernd solche subtilen, versöhnlichen Bemerkungen. Wir tun es beide, obwohl wir immer noch um die eigentliche Crux unserer Trennung herumreden. Wir sprechen überhaupt nicht über so ernste Dinge, aber wir erzählen Freunden und Verwandten die Geschichte jenes schicksalhaften Tages in Pete’s Tavern. Wahrscheinlich werden sie uns heute Abend bitten, sie wieder zu erzählen. Dann werden wir die Augen verdrehen und sagen: «Schon wieder?» Aber insgeheim werden wir jedes Wort dieser Geschichte genießen. Unserer Geschichte. Die mulmigen Stunden bis zu unserem Treffen, die langsam heraufdämmernde Erkenntnis, die euphorische Taxifahrt in unsere alte gemeinsame Wohnung nach dem Lunch. Ich bin sicher, heute Abend werden wir ein neues Detail hinzufügen, wie wir es immer tun. Vielleicht werde ich die literarische Ebene einbeziehen, die ich von Anfang an gesehen habe: Da saßen wir nun an O. Henrys Tisch und spielten unsere eigene Version des «Geschenks der Weisen» – jeder von uns bereit, etwas aufzugeben für den andern, für die Liebe. Ich finde, das ist ein passender kleiner Schnörkel für die Weihnachtszeit.
Zoe erwartet uns an der Tür, als wir kommen. Sie reißt sie auf und schreit: «Onkel Ben!», und dann kommt sie ohne Mantel und Schuhe die Auffahrt hinuntergelaufen.
Ben schwenkt sie auf den Armen im Kreis herum und sagt: «Zoe! Schön, dich wiederzusehen, mein Schatz!»
«Du hast mir sooo gefehlt, Onkel Ben!» Sie schaut ihn anbetungsvoll an.
«Du hast mir auch gefehlt, Süße», sagt er.
«Aber ich wusste, dass du zurückkommen würdest!», erklärt Zoe. Eines Tages, denke ich plötzlich, wird sie lernen müssen, dass nicht immer alles glücklich endet. Aber wenn sie Glück hat, werden ihre Eltern nicht das erste Beispiel dafür sein. Bisher scheint es, als kämen sie voran, auch wenn der Frieden zwischen ihnen zerbrechlich ist.
«Na, du bist eben ein kluges kleines Mädchen», sagt Ben und stellt sie auf der Veranda ab. «Aber jetzt lass uns ins Haus gehen, sonst erfrierst du uns noch.»
Strahlend nimmt Zoe seine Hand. «Ja! Komm rein und sieh dir Baby Lucas an!»
«Hey, Zoe, und was bin ich? Ein Stück Holz?» Ich tue so, als mache es mir etwas aus, neben Ben die zweite Geige zu spielen.
Zoe dreht sich lachend zu mir um. «Hi, Tante Claudia! Du kannst auch mit reinkommen!»
Inzwischen sind alle außer Daphne und Lucas in der Diele versammelt und grinsen breit und albern.
«Hey, Leute», sagt Ben und lächelt betreten.
Mein Dad tritt vor und gibt den Patriarchen und offiziellen Sprecher der Familie. «Willkommen daheim, Buddy!», sagt er und streckt die Hand aus.
«Schön, wieder da zu sein, Larry», antwortet Ben. Die beiden schütteln sich die Hand, und meine Mom macht ein Foto. Dann macht sie noch eins, als mein Vater brummt: «Ach, was soll’s», und Ben in die Arme schließt, wie man es sonst nur tut, wenn jemand von einem langen Einsatz in einem fernen Krieg heimgekehrt ist.
Die andern stehen schon Schlange. Erst kommt Maura, dann Scott und die Jungs. Dann Dwight, dann Tony.
«Gratuliere», sagt Ben zu Tony.
«Gleichfalls, Mann», sagt Tony.
Meine Mutter drückt ein ums andere Mal auf den Auslöser und fotografiert jede Umarmung. Ich lasse sie – ich möchte ihre Begeisterung nicht dämpfen, und außerdem habe ich das Gefühl, ich will diesen Abend noch viele Jahre in Erinnerung behalten.
Feierlich übergibt sie ihre Kamera schließlich Dwight. Sie will als Letzte an die Reihe kommen.
«Ben, Darling.» Sie macht eine dramatische Pause. «Was hat dich so lange aufgehalten?»
Ben lacht. «Ich weiß es auch nicht, Vera. Ich war ein Trottel.»
«Ja, das warst du.» Sie hat Tränen in den Augen. «Aber meine Tochter auch.»
«Okay. Okay. Das reicht!» Ich muss über die ausgelassene Begeisterung meiner Familie lachen. «Wir haben ein
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