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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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an dem Arzt vorbei auf den toten Jungen zu. Die Augen waren geschlossen. Ameisen krabbelten in einer Kolonne um den Rand dessen, was von seinem Gesicht noch übrig war und was Van Leeuwen in Ermangelung einer präziseren Bezeichnung für sich Wunde nannte.
    »Seid ihr hier fertig, Mevrouw ?«, fragte er das Mädchen von der Spurensicherung.
    Das Mädchen nickte. Van Leeuwen bückte sich, um die Ameisen vom Rand des Schläfenbeins zu wischen, aber sie kamen sofort wieder.
    Der Commissaris entdeckte einen Holzsplitter unter dem Ohrim Gras. Er zog einen Zellophanhandschuh aus der Manteltasche, streifte ihn über und hob den Splitter mit der Spitze von Daumen und Zeigefinger auf. Er betrachtete ihn so genau, wie das ohne Lesebrille möglich war. Der Splitter war dünn wie eine Stecknadel, weder Ast noch Rinde. Van Leeuwen roch daran. Er roch nichts. »Wenn ihr fertig seid, dann deckt ihn zu.«
    Er sah, wie die Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit beendeten und die Sanitäter mit einer Trage auf den Jungen zugingen. »Hier, untersucht den auch«, sagte er zu dem Mädchen von der Spurensicherung und hielt ihr den Splitter hin. Dann fragte er den Arzt: »Wie lange hat das Opfer schon da gelegen ?«
    »Er war noch nicht tot, als er oder es ihn da reingezerrt hat, aber dann muss alles sehr schnell gegangen sein.« Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Danach hat er sich nicht mehr bewegt.«
    »Wer hat ihn gefunden ?«
    Gallo antwortete: »Der Rottweiler von dem Jogger da.«
    »Hatte er etwas dabei, einen Ausweis, eine Monatskarte, ein Handy mit Adresse oder gespeicherten Nummern ?«
    »Nichts.«
    Van Leeuwen fragte nicht, ob es Zeugen gab, das kam später. Wenn die Todeszeit stimmte, die der Arzt geschätzt hatte, war der Mord kurz vor Mitternacht passiert, im dunklen Park. Gestorben am Geburtstag der Königin, dachte Van Leeuwen; vielleicht sollte die Monarchie abgeschafft werden. Ihn fröstelte, als er sah, wie die Notärzte die Trage mit dem schmalen Körper in den Krankenwagen schoben. Das TV-Team richtete seine Scheinwerfer auf den zugedeckten Toten, das grelle silberweiße Licht veränderte die Situation und damit das Leben und den Tod. Pressefreiheit , dachte Van Leeuwen.
    Irgendwo läuteten Kirchenglocken. Ihr Klang mischte sich mit dem Dröhnen des Helikopters und der fernen Musik. Eine Wolke schob sich vor die untergehende Sonne, sie sah aus wie kupfergesäumt. Van Leeuwen schaute hoch und dachte, es wird tatsächlich Sommer. Er wandte sich ab und stapfte davon. Er hatte alles gesehen, was er sehen musste und was er jemals sehen wollte.
    »Wo gehst du hin ?«, rief Hoofdinspecteur Gallo ihm nach. »Nach Hause«, antwortete Van Leeuwen, ohne innezuhalten. »Ich muss nachdenken.«
    »Worüber?«
    Van Leeuwen antwortete nicht. Erst ein paar Schritte später blieb er abrupt stehen und drehte sich doch um, suchte mit den Augen den Arzt. »Sie irren sich, Mijnheer«, rief er, »das da kann nicht jeder getan haben. Einen Mord kann jeder begehen, aber das ist kein Mord. Es ist eine Erfindung, und eine Erfindung kann immer nur einer machen. Ich werde ihn stellen und dafür sorgen, dass er nie wieder etwas erfindet.«
    Er wusste, dass er ein neues Bild gesehen hatte, neben dem das des fallenden Kindes verblassen und das von nun an vor ihm auftauchen würde, ungebeten, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, und im Traum, bis er den Täter gefunden hatte und das fallende Kind zurückkehrte.
    Er erlebte den Sturz des Kindes immer wieder, manchmal im Schlaf und manchmal am helllichten Tag, wenn er nicht aufpasste. Die Bilder packten ihn plötzlich, wie aus dem Nichts. Sie waren wie ein Loch in seinem Leben, in das er unvorbereitet fiel. Es gab Zeiten, da ließen sie ihn in Ruhe, weil andere Bilder stärker waren. Doch am Ende siegte immer das Kind auf dem Fensterbrett, und der Anblick versengte sein Herz.
    Als er den Alfa erreicht hatte, setzte er sich hinter das Steuer und schloss einen Moment lang die Augen. Commissaris Bruno van Leeuwen, vierundfünfzig, wusste, was Angst war.

 3 
    Ihre ganze Ehe hindurch hatte Simone Van Leeuwen das Haar lang getragen, anfangs blond, dann mit den ersten grauen Strähnen durchsetzt, und schließlich schimmerte es silbrig. Erst vor einem Jahr, als sich ihre Krankheit nicht länger verheimlichen ließ, hatte sie es abgeschnitten, igelkurz, und weil es eine ihrer letzten bewusstenHandlungen gewesen war, sorgte der Commissaris dafür, dass es kurz blieb. Sie wirkte dadurch älter, als sie

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