Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
–«
Am anderen Ende wurde abgehoben, und eine müde Frauenstimme meldete sich. »Mijnheer van Leeuwen ? Sie sollen nicht auf meinen Anrufbeantworter brüllen.« Er hatte nicht gemerkt, dass er brüllte, obwohl ihm danach zumute gewesen war. »Ich bin gegangen, weil Sie zu spät gekommen sind«, fuhr die Stimme fort. »Und wenn es mit Ihrer Frau noch schlimmer wird, komme ich überhaupt nicht mehr.«
»Warum nicht ?«
»Weil es mich unglücklich macht.«
»Sie sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein«, brüllte Van Leeuwen. »Niemand ist das, Sie nicht, ich nicht, keiner ! Was ist denn so schlimm an meiner Frau ?«
»Sie erleben sie nur am Abend, wenn sie den ganzen Tag auf war und müde ist. Sie wissen nicht, was sie alles anstellt, wie sie leidet ohne Sie – und ohne es selbst zu merken. Sie sollten sie wirklich in ein Pflegeheim geben.«
Van Leeuwen schwieg. »Ich weiß«, sagte er schließlich leiser. »Ich brauche nur noch etwas Zeit. Bitte, lassen Sie mich nicht im Stich, Mevrouw.«
Die Frau am anderen Ende der Leitung schwieg auch, bevor sie seufzte. »Ich lasse Sie nicht im Stich. Aber nur aus einem Grund. Wissen Sie, warum ?«
»Muss ich das wissen ?«
»Weil Sie Ihre Frau immer noch lieben, deswegen.«
Er brummte etwas, legte auf und ging in sein Arbeitszimmer. Er hatte dort seinen eigenen Fernsehapparat, den er einschaltete, umdie Nachrichten zu sehen. Außer dem TV-Gerät gab es in dem kleinen Raum nur einen Schreibtisch aus verwittertem Teakholz, einen ingwerfarbenen Ledersessel mit rissigem Bezug und genageltem Polster, eine Kommode und einen Bücherschrank, der eine ganze Wand vom Boden bis zur Decke einnahm. Der Schreibtisch war aufgeräumt: ein zugeklapptes Notebook, eine Schreibunterlage aus grünem Filz, ein Becher mit Kugelschreibern und Bleistiften und, in einem schlichten Metallrahmen, ein Bild von Simone.
Das Foto war vor siebzehn Jahren aufgenommen worden, Van Leeuwen selbst hatte es gemacht. Seine Frau, damals sechsunddreißig, saß im Schatten einer Pinie am Stadtrand von Siena und lachte in die Kamera, die Stirn verborgen unter dem Schirm einer gelben Plastikkappe. Seit jener Reise hatte es keinen gemeinsamen Urlaub mehr gegeben. Ein paarmal war Simone noch allein nach Italien gefahren und beim letzten Mal mit dem zweisitzigen mokkabraunen Alfa zurückgekommen, den sie dort gekauft hatte. Immer wenn er das Foto betrachtete, dachte Van Leeuwen, dass er noch einmal mit ihr in die Ferien fahren wollte, an Orte, an denen sie glücklich gewesen waren, Madrid, Rom oder Florenz, ja, auch Paris. Vielleicht schob das Wiedersehen das Vergessen hinaus.
In den Fachbüchern, die eine Reihe des Regals füllten, stand nichts darüber. Die Medizin war noch nicht sehr weit gekommen, seit sie erfunden worden war, dachte Van Leeuwen manchmal bitter, und wahrscheinlich war dieser Gedanke ungerecht. Trotzdem schien ihm, als hätte das Verbrechen sich schneller entwickelt, neue Verbrechen und neue Krankheiten, und die Polizisten und die Ärzte hinkten hinterher, und deshalb las er am liebsten die Bücher in der zweiten Regalreihe, Biografien von Mördern, Raubmördern und Serienkillern, aber auch von Wirtschaftskriminellen, Kriegsverbrechern und Politikern. Er wollte Schritt halten.
Wenn ihm anschließend nach Trost zumute war, griff er wahllos in die dritte Reihe, die sich aus Kunstbüchern zusammensetzte, Bildbände, Monografien, Lebensgeschichten von Caravaggio, Giotto, Goya, Michelangelo, Rembrandt, Tizian, Van Gogh, Velazquez; es gab keine Kunst ohne Leiden, kein Leben.
An der Wand gegenüber dem Regal hing ein Poster mit einer Goya-Radierung, die einen müde über seinem Schreibtisch zusammengesunkenen, von Fledermäusen umflatterten Mann zeigte. Neben den angezogenen Beinen des Mannes standen auf Spanisch die Worte Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Wenn ihm überhaupt irgendetwas heilig war, dann die Bilder von Goya. Bilder, die das wahre Antlitz des Menschen zeigten. Keine satten Kaufmannsgemälde wie bei den holländischen Malern, keine Distelfinken und keine Schlittschuhläufer auf zugefrorenen Grachten; stattdessen Krieg, Mord und Wahnsinn. Aber auch daraus machte der Commissaris keine Religion, obwohl seine Vorliebe für den düsteren spanischen Maler in der gemütlichen Heimat Vermeers und Rembrandts durchaus Züge von Ketzerei trug.
Die Szenen im Fernsehen waren eines Goya würdig: Militärlastwagen, bis obenhin mit toten Schafen und Holstein-Rindern beladen,
Weitere Kostenlose Bücher