Und wenn wir fliehen (German Edition)
überleben. Genau wie wir.
Zu Anika hatte ich gesagt, wir wären nicht so wie Michaels Leute, aber wenn es wirklich drauf ankam, gab es vielleicht gar nicht mehr so viele Unterschiede zwischen uns.
Eine Kugel schrammte über das Dach, und ich zuckte zusammen. Auf einmal hatte ich das Bild eines Daumens vor Augen, der eine Narbe auf dem Handrücken rieb. Da machte es plötzlich klick .
Nicht jeder Biss muss tödlich sein.
»Tobias«, sagte ich, »wenn wir anhalten würden, dann würden sie doch auch anhalten und aussteigen. Meinst du, du könntest auf beide schießen, bevor sie die Chance haben zu reagieren?«
»Anhalten?!«, rief Anika, aber Tobias nickte, die Lippen entschlossen aufeinandergepresst.
»Das könnte ich machen«, antwortete er.
Ich sah ihm fest in die Augen. »Nicht um sie umzubringen«, sagte ich. »Nur … nur damit sie nicht mehr auf uns schießen können, oder uns weiter verfolgen. Kriegst du das hin?«
»Was?«, protestierte Justin. »Aber …« Ich verpasste ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, bevor er weitersprechen konnte. Tobias überlegte und sah mich ebenfalls scharf an. Dann erhellte ein angedeutetes Lächeln seinen Blick.
»Ja«, antwortete er. »Ich denke, das kriege ich hin.« Er nickte in Richtung Fahrersitz. »Stopp den Wagen.«
»Echt jetzt?«, fragte Anika.
»Stopp den Wagen, Anika«, wiederholte ich, und da trat sie auf die Bremse.
Wir kamen schliddernd zum Stehen und stießen gegen einen schneebedeckten Bordstein. Ich hob vorsichtig den Kopf. Die Flocken fielen jetzt dichter, doch ich konnte das Auto hinter uns immer noch problemlos erkennen. Ich hoffte, Tobias würde für das, was er tun musste, ausreichende Sicht haben.
Er kurbelte sein Fenster herunter, und die kalte Luft strömte herein. Der blaue Truck hielt ungefähr sechs Meter von uns entfernt knirschend an. Tobias rutschte näher zur Tür. »Lass den Motor laufen«, sagte er, während er seine Pistole herauszog. »Auf mein Kommando musst du sofort losfahren.«
Er schob den Arm am Rand des geöffneten Fensters entlang. Die zwei Männer aus dem Truck waren ausgestiegen. Einer hatte noch immer die Waffe in der Hand, mit der er auf uns geschossen hatte, und beide grinsten.
Sie dachten, wir hätten angehalten, weil sie uns Angst eingejagt hatten. Wahrscheinlich glaubten sie auch, wenn wir vorgehabt hätten, uns zu wehren, dann hätten wir das schon längst getan. Das war der wichtigste Teil an der Sache, denn in dem Moment, in dem ihre Wachsamkeit nachließ, bekäme Tobias seine Chance. Sie sollten glauben, wir wären ihnen hilflos ausgeliefert.
»Bitte tun Sie uns nichts!«, rief ich aus dem Fenster. »Sagen Sie uns einfach, was Sie wollen. Dann können Sie es haben.«
»Einverstanden«, erwiderte derjenige, der gefahren war. Sie schlenderten näher und musterten unseren Wagen. »Dann steigt mal alle schön aus, damit wir uns in Ruhe über alles unterhalten können.«
Die letzte Silbe hatte kaum mein Ohr erreicht, als Tobias sich plötzlich halb aus dem Fenster warf und schoss.
Der Mann mit der Waffe schreckte zurück und auf einmal hing sein Arm schlaff herunter. Als er sich an die Schulter griff, fiel ihm die Pistole aus der Hand. Der Fahrer konnte kaum zucken, da knallte Tobias Pistole schon ein zweites Mal. Er stolperte, während sich auf Kniehöhe in Windeseile ein Blutfleck auf seiner Jeans ausbreitete.
»Fahr!«, rief Tobias und warf sich mit einem Ruck wieder auf seinen Sitz. »Fahr los, schnell!«
Es wäre nicht nötig gewesen, das zweimal zu sagen. Anika trat das Gaspedal durch, und der Geländewagen machte einen Satz vorwärts. Während wir die Straße entlangrasten, warf ich noch einen Blick aus dem Rückfenster. Der Fahrer tastete nach der Pistole und zog dabei das Bein hinter sich her, doch als wir um die nächste Kurve brausten und die beiden Männer hinter uns ließen, hatte er die Waffe immer noch nicht erreicht.
»So können sie uns nicht mehr verfolgen«, sagte Tobias. »Und wenn wir Glück haben, sind alle, denen sie Bescheid gegeben haben, noch ein gutes Stück weit weg.«
Die Schüsse klangen mir noch in den Ohren. Ich hatte gedacht, es würde mir nicht so viel ausmachen, wenn ich wüsste, dass wir sie alle am Leben gelassen hatten, aber mein Herz pochte noch immer, und in meinem Magen ballte sich ein Brechreiz zusammen.
Ich hatte mein Bestes getan.
»Danke«, sagte ich zu Tobias, woraufhin der Schal vor seinem Gesicht etwas verrutschte und ein erleichtertes Grinsen zum Vorschein
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