Und wenn wir fliehen (German Edition)
das wieder aufzuholen, was sie in der ganzen Zeit versäumt hatte, in der sie im Krankenhaus gelegen hatte. Der Anblick ihrer gesunden Gesichtsfarbe brachte mich jedenfalls zum Lächeln.
Sie hopste in die Höhe, um einen Blick in den Topf mit dem Haferbrei zu werfen. »Gibt’s auch braunen Zucker?«
»Meredith«, sagte ich mahnend, während meine Aufregung langsam nachließ. Gav hob die Hand.
»Braunen nicht«, antwortete er, »aber ich kann ein bisschen von dem weißen drüberstreuen.«
Merediths Unterlippe verzog sich, doch rechtzeitig bevor sich ein Schmollmund daraus bilden konnte, presste sie die Lippen fest zusammen und schob das Kinn nach vorne. »Super!«, erwiderte sie. »Danke, Gav.«
»Ich hab extra noch ein Päckchen aus dem Lager geholt«, erklärte mir Gav, während Meredith zum Küchentisch hüpfte. »Ich dachte mir, wenn jemand was zum Naschen verdient hat, dann sie.«
»Danke«, sagte ich. »Auch für das Frühstück.«
»Ist schon klar, dass ihr mich bloß wegen meiner Kochkünste hierbehaltet«, antwortete er grinsend.
»Ganz genau, vergiss das nicht«, antwortete ich, während ich ihm den Arm um die Hüfte legte und mich vorbeugte, um ihn zu küssen. Meredith prustete im Esszimmer vor Lachen.
Als ich Gav wieder losließ, begann er damit, den Haferbrei in Schälchen zu füllen. Da knackste hinter ihm der Fußboden, und Leo trat aus dem kleinen Badezimmer, in dem er sich gerade gewaschen hatte. Er sah uns einen Augenblick mit dem gleichen unsicheren Gesichtsausdruck an, der mir zum ersten Mal an ihm aufgefallen war, als er von der Fähre stieg. So als wüsste er nicht genau, warum er überhaupt hier war. In diesem Moment drehte Gav sich um und stieß ihn dabei mit dem Stiel des Schöpflöffels am Arm. Leo zuckte zurück und prallte mit der Hüfte an die Ecke der Küchentheke.
»Mist«, sagte Gav. »Tut mir leid.«
Leo zog den Kopf ein und stützte sich mit einer Hand an der Theke ab. »Alles in Ordnung«, erwiderte er. »Nur so ein dummer Reflex.« Er lachte verlegen, und mir drehte sich der Magen um. Der Leo, mit dem ich groß geworden war, hatte immer locker gescherzt. Bei diesem Leo wirkte das Lachen jedoch irgendwie angestrengt.
Er ließ den Blick auf mir ruhen, als ich meine Schale Brei nahm, und mein Magen rotierte noch mehr. Wenn jemand wusste, was für ein Tag heute war, dann Leo.
»Warte mal, Kae«, sagte er und lief an uns vorbei ins Wohnzimmer. Ich hörte etwas rascheln – wahrscheinlich den Stoff des Rucksacks, den er aus dem Haus seiner Eltern mitgebracht hatte. Genau wie meines besaß auch sein altes Zuhause keinen Generator, deshalb hatte er hier auf dem Sofa übernachtet.
Gav sah mich fragend an, und ich zuckte mit den Schultern. Er wusste ungefähr über die Freundschaft zwischen Leo und mir Bescheid. Als wir Leo vor zwei Wochen nach Hause brachten, hatte ich ihm und Tessa eine verkürzte Version der Geschichte erzählt. Dass ich vorher nie darüber gesprochen hatte, erklärte ich damit, dass ich in Gedanken so sehr damit beschäftigt gewesen sei, was auf der Insel passierte. Was ja auch zum größten Teil stimmte.
Den Streit zwischen Leo und mir und dass wir nicht mehr miteinander gesprochen hatten, seit wir wegen Dads Arbeit nach Toronto gezogen waren, erwähnte ich gar nicht. Nicht einmal Leo gegenüber. Er schien nach seiner Rückkehr so durcheinander zu sein, dass ich es möglichst vermied, auch noch unangenehme Themen anzusprechen. Angesichts des Verlustes unserer Freunde und Familienmitglieder kam mir unser Streit mittlerweile ohnehin ziemlich belanglos vor. Nach vier Tagen sagte Leo jedoch: »Zwischen uns ist doch wieder alles in Ordnung, oder?«, so als hätte er Angst, danach zu fragen.
Alles, was ich als Antwort hervorbrachte, war: »Es tut mir so leid. Dieser ganze Streit war meine Schuld.«
»Ich nehme einfach die halbe Schuld auf mich, dann sind wir quitt«, hatte er geantwortet und mich so fest umarmt, dass mir die Luft wegblieb. Und mit einem Mal war alles gut.
Aber auch wenn zwischen uns beiden alles wieder gut war, ihm ging es mit ziemlicher Sicherheit nicht so gut.
Während Gav seinen eigenen und Merediths Haferbrei zum Esstisch trug, kam Leo, eine Hand hinter dem Rücken, zurück in die Küche.
»Mach die Augen zu«, forderte er mich mit einem beinahe richtigen Lächeln auf.
»Leo«, sagte ich »Ich will nicht …«
»Komm schon«, erwiderte er. »Denk an die alten Zeiten.«
Hätte ich ihm noch weiter widersprochen, wäre das Lächeln
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