Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
und gereinigt wurde und die Züge auf dieser Linie wieder normal verkehrten. Keine Schwierigkeit, dachte ich. Bis zur morgendlichen Hauptverkehrszeit blieben noch ein paar Stunden.
Als wir ausstiegen, hatte sich auf dem Bahnsteig bereits eine große Menschenmenge versammelt. U-Bahn-Polizei, dazukommende gewöhnliche Cops, Bahnarbeiter, die von allen Seiten zusammenströmten, U-Bahn-Personal aus den oberen Etagen des Terminals. Fünf Minuten später polterte ein Rettungsteam des FDNY mit einer Tragbahre die Treppe herunter. Als die Feuerwehrleute durch die Sperre und in den Zug kamen, stiegen die zuerst erschienenen Cops aus. Wie es weiterging, sah ich nicht mehr, denn diese Cops streiften durch die Menge, schauten sich um und suchten jeweils einen Fahrgast, um ihn mitzunehmen und zu befragen. Der große Sergeant kam zu mir. Ich hatte seine Fragen im Zug beantwortet. Deshalb hatte er es gleich auf mich abgesehen. Er führte mich tief in die Station hinein und in einen heißen, spärlich möblierten, weiß gekachelten Raum, der vermutlich zum Revier der U-Bahn-Polizei gehörte, ließ mich auf einem Holzstuhl Platz nehmen und fragte mich nach meinem Namen.
»Jack Reacher«, antwortete ich.
Er schrieb ihn auf und sagte sonst nichts mehr. Lungerte nur an der Tür herum und beobachtete mich. Und wartete. Auf die Ankunft eines Kriminalbeamten, vermutete ich.
7
Der Kriminalbeamte, der dann aufkreuzte, war eine Frau, und sie kam allein. Sie trug Hosen und dazu eine kurzärmelige graue Bluse. Vielleicht Seide, vielleicht Kunstseide. Jedenfalls glänzend. Sie war nicht in die Hose gesteckt, und ich vermutete, dass sie die Dienstwaffe, die Handschellen, und was sie sonst noch bei sich hatte, verdeckte. Die Frau war klein und schlank, hatte schwarze, zu einem Nackenknoten zusammengefasste Haare und ein schmales, ovales Gesicht. Kein Schmuck. Nicht mal ein Ehering. Sie war Ende dreißig, vielleicht vierzig. Eine attraktive Frau. Ich mochte sie sofort. Sie wirkte entspannt und freundlich, wies ihre goldene Plakette vor und gab mir ihre Visitenkarte. Darauf standen ihre dienstliche Telefonnummer, eine Handynummer und ihre E-Mail-Adresse beim NYPD , ebenso wie ihr Name, den sie auch laut sagte: Theresa Lee . Aber sie war keine Asiatin. Vielleicht stammte »Lee« aus einer früheren Ehe oder war die Ellis-Island-Version von Leigh oder einem anderen längeren oder komplizierteren Namen. Oder vielleicht stammte sie von Robert E. Lee ab.
Sie sagte: »Können Sie mir schildern, was genau passiert ist?«
Sie sprach leise, mit hochgezogenen Augenbrauen und sanfter, fürsorglicher und rücksichtsvoller Stimme, als wäre ihre größte Sorge mein persönlicher posttraumatischer Stress. Können Sie es mir schildern? Können Sie das? Wie in: Können Sie es ertragen, alles noch einmal zu durchleben? Ich musste kurz lächeln. In Midtown South gab es pro Jahr kein halbes Dutzend Morde, und selbst wenn sie seit ihrem ersten Tag im Dienst zu allen gerufen worden war, hatte ich trotzdem mehr Leichen gesehen als sie. Um ein Vielfaches mehr. Die Frau in der U-Bahn war nicht der angenehmste Fall gewesen, aber es hatte weit schlimmere ge-
geben.
Also erzählte ich ihr genau, was passiert war: mein Einsteigen in der Bleecker Street, die abgehakte Elfpunkteliste, meine zögernde Annäherung, das stockende Gespräch, der Revolver, der Selbstmord.
Theresa Lee wollte über die Liste reden.
»Wir haben ein Exemplar«, sagte sie. »Es ist als vertraulich eingestuft.«
»Sie ist seit zwanzig Jahren bekannt«, entgegnete ich. »Jeder hat ein Exemplar. Von vertraulich kann keine Rede sein.«
»Wo haben Sie sie gesehen?«
»In Israel«, antwortete ich. »Kurz nachdem sie aufgestellt worden war.«
»Wieso?«
Ich erzählte ihr meinen Lebenslauf. Die Kurzfassung. Die US Army, dreizehn Jahre als Militärpolizist, die Eliteeinheit 110th Investigative Unit, dienstliche Verwendung in aller Welt, dazu Abkommandierungen nach Bedarf. Dann der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Friedensdividende, der zusammengestrichene Verteidigungshaushalt, die überraschende Freistellung.
»Offizier oder Mannschaftsdienstgrad?«, fragte sie.
»Zuletzt war ich Major«, sagte ich.
»Und jetzt?«
»Ich bin pensioniert.«
»Dafür sind Sie noch recht jung.«
»Ich wollte das Leben genießen, solange ich kann.«
»Und tun Sie’s?«
»Mehr als jemals zuvor.«
»Was haben Sie heute Abend gemacht? Drunten im Village?«
»Musik«, sagte ich. »In den Blues Clubs in der
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