Brandwache
20. September
Das erste, wonach ich natürlich Ausschau hielt, war der
Gedenkstein für die Brandwache. Und natürlich fand ich ihn
nicht. Er wurde erst 1951 eingeweiht. Seine Ehrwürden, der Dekan
Walter Matthews, hielt die Rede dazu, und jetzt haben wir erst 1940.
Das wußte ich. Erst gestern war ich da, um mir den Stein
anzusehen, in der irrigen Annahme, es könnte mir helfen, wenn
ich den Schauplatz bereits kannte. Es half aber nicht.
Das einzige, was mir helfen mochte, wären ein Intensivkurs
über London während des Blitzkriegs und ein bißchen
mehr Zeit gewesen. Ich bekam beides nicht.
»Eine Reise durch die Zeit ist nicht dasselbe, wie wenn man
mit der U-Bahn fährt, junger Mann«, hatte der werte
Dunworthy gesagt und mich dabei durch seine altertümliche Brille
angeblinzelt. »Entweder Sie melden sich am zwanzigsten zur
Stelle, oder Sie bleiben ganz hier.«
»Aber ich bin nicht vorbereitet«, hielt ich ihm
entgegen. »Sehen Sie, ich habe vier Jahre gebraucht, um mich auf
eine Reise mit dem Apostel Paulus vorzubereiten. Apostel Paulus! Nicht zur St.-Pauls-Kathedrale. Sie können doch nicht von
mir verlangen, daß ich mich binnen zwei Tagen mit London
während des Blitzkriegs vertraut mache.«
»Doch«, hatte Dunworthy erwidert. »Das können
wir.« Ende der Unterredung.
»Zwei Tage!« hatte ich meiner Zimmergenossin Kivrin
zugeschrien. »Und nur, weil irgendein Computer sich vertan hat.
Und der werte Dunworthy verzieht nicht mal eine Miene, als ich es ihm
sage. ›Eine Reise durch die Zeit ist nicht dasselbe, wie wenn
man mit der U-Bahn fährt, junger Mann‹, hat er bloß
geantwortet. ›Ich rate Ihnen, sich bereit zu halten.
Übermorgen geht es los.‹ Der Mann hat ja keine
Ahnung.«
»Quatsch«, sagte sie. »Natürlich hat er
Ahnung. Er ist eine Koryphäe. Er hat das Buch über die
St.-Pauls-Kathedrale geschrieben. Hör ruhig auf ihn.«
Wenigstens von Kivrin hatte ich ein bißchen Mitgefühl
erwartet. Sie war ja fast hysterisch geworden, als man ihr Praktikum
vom England des fünfzehnten Jahrhunderts in das England des
vierzehnten Jahrhunderts änderte, und ich frage mich, wie beide
Jahrhunderte als Praktikum gelten sollten. Selbst wenn man
ansteckende Krankheiten mitrechnete, bekam man jeweils höchstens
eine Fünf. Für den Blitzkrieg gibt es eine Acht, und wenn
ich Glück habe, bekomme ich für die St.-Pauls-Kathedrale
sogar eine Zehn.
»Meinst du, ich sollte noch mal zu Dunworthy gehen?«
fragte ich.
»Ja.«
»Und was dann? Ich habe bloß zwei Tage Zeit. Ich kenne
weder die Währung noch die Sprache, noch den geschichtlichen
Hintergrund. Ich weiß überhaupt nichts.«
»Er hat aber Ahnung«, wiederholte Kivrin. »Ich
finde, du solltest ruhig auf ihn hören, anstatt ihn zu
verprellen.« Die liebe alte Kivrin. Immer ein offenes Ohr
für die Sorgen anderer!
Der gute Mann war also dafür verantwortlich, daß ich
jetzt im offenen Westportal stand, blöde vor mich hingaffte wie
der Dorftrottel, der ich ja angeblich war, und einen Stein suchte,
der noch gar nicht existierte. Diesem guten Mann hatte ich es zu
verdanken, daß ich absolut unvorbereitet mein Praktikum
antrat.
Ich konnte nur wenige Meter in die Kirche hineinspähen. Sehr
weit weg schimmerte matt eine Kerze, und ein verschwommener
weißer Fleck bewegte sich auf mich zu. Das war bestimmt ein
Kirchendiener oder sogar der Dekan selbst. Ich holte den Brief meines
Onkels hervor, eines Geistlichen in Wales, der mir Zugang zum Dekan
verschaffen sollte, und fühlte in meiner Gesäßtasche
nach, ob der Mikrofilm Oxford Englisch Lexikon, überarbeitete
Auflage mit historischen Ergänzungen noch da war, den ich
aus der Bodleyana geschmuggelt hatte. Mitten in einem Gespräch
konnte ich ihn natürlich nicht benutzen, aber mit etwas
Glück schaffte ich es vielleicht, mich aus der Situation heraus
durch die erste Begegnung zu wursteln und die Wörter, die ich
nicht kannte, später nachzuschlagen.
»Bist du vom Zetvaudee?« fragte er. Er war nicht
älter als ich, einen Kopf kleiner und viel schmächtiger. Er
sah fast asketisch aus. Er erinnerte mich an Kivrin. Er war nicht
weiß angezogen, sondern hielt etwas Weißes fest gegen die
Brust gepreßt. Unter anderen Umständen hätte ich
gedacht, es sei ein Kissen. Unter anderen Umständen hätte
ich verstanden, was er mich fragte, aber ich hatte keine Zeit mehr
gehabt, Submediterranes Latein und Jüdisches Recht zu
löschen und statt dessen Cockney und Luftschutzmaßnahmen
zu lernen. Ganze zwei Tage
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