Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
wie ein Strauß vielleicht oder, in diesem Klima, ein Pinguin.
«Hier wirst du möglicherweise fliegen müssen», erklärt Mama ein bisschen steif. «Und du wirst es vielleicht auch probieren wollen», sagt sie zu Jeffrey. «Ich wette, du bist ein Naturtalent.»
Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Klar, Jeffrey ist das Naturtalent, und ich bleibe am Boden kleben.
«Ich will mein Zimmer sehen», sage ich und flüchte mich in die Sicherheit des Hauses.
An dem Nachmittag stehen wir zum ersten Mal auf dem Holzsteg der Broadway Avenue in Jackson, Wyoming. Sogar im Januar gibt es hier massig viele Touristen. Alle paar Minuten fahren Postkutschen und andere Pferdefuhrwerke vorbei, dazu eine nicht abreißen wollende Kette von Autos. Ich kann nicht anders, ich halte die Augen nach einem bestimmten silbernen Pick-up auf: dem geheimnisvollen Avalanche mit dem Nummernschild 99CX.
«Wer hätte gedacht, dass es hier so viel Straßenverkehr gibt?», sage ich und schaue den Autos hinterher.
«Was würdest du tun, wenn du ihn jetzt hier siehst?», fragt Mama. Sie trägt einen neuen Cowboyhut aus Stroh, dem sie in dem ersten Souvenirshop, den wir betreten haben, nicht widerstehen konnte. Ein Cowboyhut. Ich für meinen Teil finde, dass sie diese Wildwestsache ein bisschen übertreibt.
«Wahrscheinlich in Ohnmacht fallen», meint Jeffrey. Er klimpert wild mit den Wimpern und fächelt sich Luft zu, dann tut er, als bräche er zusammen, Mama geradewegs in die Arme. Beide lachen.
Jeffrey hat sich schon ein T-Shirt mit einem Snowboarder-Aufdruck gekauft und denkt über die Anschaffung eines echten, lebensgroßen Snowboards nach, das er in einem Schaufenster gesehen hat. Seit der Ankunft beim Haus ist er in einer viel besseren Stimmung, da er nun sieht, dass nicht alles verloren ist. Er benimmt sich schon wieder beinahe wie der alte Jeffrey, der Jeffrey, der lächelt und Spaß macht und gelegentlich sogar in ganzen Sätzen spricht.
«Ihr zwei seid wirklich komisch», sage ich und verdrehe die Augen. Ich laufe ein Stück voraus auf einen kleinen Park zu, den ich auf der anderen Straßenseite entdeckt habe. Den Eingang bildet ein riesiger Bogen aus Elchgeweihen.
«Lasst uns hier langgehen», rufe ich Mama und Jeffrey zu. Wir überqueren die Straße, als die Ampel gerade gelb wird. Dann bleiben wir einen Moment unter dem Bogen stehen und schauen zu dem Gitterwerk aus Geweihen hinauf, das entfernt an Knochen erinnert. Über uns verdüstert sich der Himmel mit Wolken, und ein kalter Wind kommt auf.
«Hier wird irgendwo gegrillt. Das rieche ich», sagt Jeffrey.
«Du bist einfach ein Vielfraß.»
«He, was kann ich denn dafür, dass ich einen schnelleren Stoffwechsel habe als normale Menschen? Wie wär’s, wollen wir nicht da essen?» Er zeigt ein Stück weiter die Straße hoch, wo ein paar Leute anstehen, um in die Million Dollar Cowboy Bar zu gehen.
«Klar, und dann kauf ich dir ein Bier», sagt Mama.
«Echt?»
«Nein.»
Die beiden machen weiter ihre Witze, und ich spüre den plötzlichen Drang, diesen Moment festzuhalten, damit ich später mal zurückschauen und sagen kann: So hat alles angefangen. Teil eins von Claras Aufgabe. Bei dem Gedanken platzt mir vor lauter Gefühlsüberschwang fast der Brustkorb. Ein Neuanfang, für uns alle.
«Entschuldigung, würden Sie vielleicht ein Foto von uns machen?», frage ich eine Frau, die gerade vorbeigeht. Sie nickt und nimmt den Fotoapparat von Mama entgegen. Wir posieren unter dem Bogen, Mama in der Mitte, Jeffrey und ich zu ihrer Rechten und Linken. Wir lächeln. Die Frau versucht, uns zu knipsen, aber nichts passiert. Mama geht zu ihr hin, um ihr zu zeigen, wie der Blitz funktioniert.
In dem Augenblick kommt die Sonne wieder hinter den Wolken hervor. Plötzlich sehe ich alles um mich herum auf eine eigentümliche Weise klarer, wie in Zeitlupe, damit ich ein Detail nach dem anderen in mich aufnehmen kann: die Stimmen der anderen Menschen auf der Straße, das Aufblitzen ihrer Zähne, wenn sie etwas sagen, das Brummen von Motoren und das leise Quietschen von Bremsen, wenn die Autos an der roten Ampel halten. Mein Herz schlägt wie eine langsame, laute Trommel. Stoßweise nimmt meine Lunge den Atem auf und gibt ihn wieder ab. Ich rieche Pferdeäpfel und Steinsalz, mein eigenes Lavendel-Shampoo, Mamas Vanilleduft, Jeffreys männliches Deo, sogar den schwachen Hauch von Verwesung, der immer noch den Geweihen über uns anhaftet. Klassische Musik kommt unter den Glastüren
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