Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
überrascht sein, wenn er mich sieht? Allerlei Fragen rasen mir durch den Kopf, aber wirklich wichtig ist nur eine:
Wer ist er?
In dem Moment schieße ich in rasantem Endspurt an Mrs Schwartz vorbei.
«Prima, Clara!», ruft sie. Und dann, einen Moment später: «Das kann doch nicht stimmen!»
Ich laufe aus und drehe um; ich will wissen, wie schnell ich war.
«Habe ich es nicht unter zehn Minuten geschafft?»
«Ich habe eine Zeit von fünf achtundvierzig gemessen.» Sie klingt schockiert und sieht aus, als hätte sie jetzt auch Visionen, nämlich von mir als Mitglied des Leichtathletikteams.
Hoppla. Ich habe nicht aufgepasst, habe mich nicht zurückgehalten. Ich werde einiges zu hören kriegen, wenn Mama das rausfindet.
Ich zucke mit den Schultern.
«Da stimmt irgendetwas mit der Stoppuhr nicht», erkläre ich und versuche, total cool zu wirken; ich hoffe, sie kauft es mir ab, auch wenn das heißt, dass ich die blöde Strecke nächste Woche noch mal laufen muss.
«Ja», sagt sie und nickt geistesabwesend. «Vielleicht hab ich sie beim Start nicht richtig eingestellt.»
Als Mama am Abend nach Hause kommt, findet sie mich auf dem Sofa vor dem Fernseher, in dem gerade die x-te Wiederholung von Eine himmlische Familie läuft.
«So schlimm?»
«Hilft immer, wenn gerade mal keine Folge von Ein Hauch von Himmel im Angebot ist», antworte ich sarkastisch.
Sie zieht eine Familienpackung Ben & Jerry’saus einer Papiertüte, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
«Du bist göttlich», sage ich.
«Nicht ganz.»
Sie hält ein Buch hoch: Bäume in Nordamerika.
«Aber vielleicht gibt es meinen Baum gar nicht in Nordamerika.»
«Wir schauen mal rein. Immerhin ein Anfang.»
Wir gehen mit dem Buch zum Küchentisch, beugen uns gemeinsam drüber und suchen nach genau der Art Kiefer aus meiner Vision. Eine Mutter, die ihrer Tochter bei den Hausaufgaben hilft, würde ein Außenstehender sagen; wie zwei Halbengel, die eine himmlische Mission erkunden, wirken wir sicher nicht.
«Das ist der Baum», sage ich schließlich, deute auf eine Abbildung in dem Buch und lehne mich ziemlich selbstzufrieden auf meinem Stuhl zurück. «Die Drehkiefer.»
«Gedrehte, gelbliche, paarweise angeordnete Nadeln», liest Mama aus dem Buch vor. «Brauner eiförmiger Zapfen?»
«Die Zapfen habe ich nun wirklich nicht so genau gesehen, Mama. Der Baum hat einfach die richtige Form; die Zweige haben erst auf halber Höhe am Stamm eingesetzt, so wie da auf dem Bild», antworte ich und genehmige mir einen Löffel Eis.
«Na schön.» Sie wendet sich wieder dem Buch zu. «Sieht so aus, als wachse die Drehkiefer ausschließlich in den Rocky Mountains und an der Nordwestküste Kanadas und der USA. Die amerikanischen Ureinwohner haben die Stämme gern als wichtigste Stütze für ihre Wigwams benutzt. Daher nennt man diesen Baum auch Wigwamstangenkiefer. Und …», so fährt sie fort, «… es heißt hier, dass die Zapfen extreme Hitze – wie etwa von einem Waldbrand – brauchen, um aufzubrechen und ihre Samen freizugeben.»
«Das ist ja total lehrreich», maule ich. Dabei finde ich die Vorstellung von einem Baum, der auf verbranntem Boden gedeiht, ziemlich spannend. Sogar der Baum hat eine Art Bestimmung.
«Schön. Jetzt wissen wir also ungefähr, wo das Ganze passieren wird», sagt Mama. «Wir müssen es nur noch eingrenzen.»
«Und was dann?» Ich betrachte die Abbildung von der Kiefer, und auf einmal sehe ich vor mir, wie die Zweige am Baum brennen.
«Dann ziehen wir um.»
«Wir ziehen um? Du meinst, weg aus Kalifornien?»
«Ja», antwortet sie. Offensichtlich ist es ihr ernst.
«Aber …», stottere ich. «Was ist denn mit der Schule? Und mit meinen Freunden? Was wird aus deinem Job?»
«Na ja, ich denke mal, du wirst auf eine neue Schule gehen und neue Freunde finden. Ich suche mir einen neuen Job, oder ich schau mal, ob ich meine Arbeit von zu Hause aus machen kann.»
«Was ist mit Jeffrey?»
Sie lacht leise und tätschelt mir die Hand, als hätte ich eine alberne Frage gestellt. «Jeffrey kommt natürlich mit.»
«Ja klar, der wird total aus dem Häuschen sein vor Begeisterung», sage ich und denke an Jeffrey mit seinem ganzen Heer von Freunden und seiner nicht enden wollenden Parade von Baseballspielen, Ringkämpfen, Fußballtrainingsstunden und was da sonst noch so ist. Wir haben unser Leben, Jeffrey und ich. Zum ersten Mal wird mir klar, wie viel da auf mich zukommt – viel mehr, als ich erwartet hatte. Meine Aufgabe
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