Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
ich tat, und zwar heftig). Anschließend notierte ich sorgfältig, wie lange der Heilungsprozess dauerte (etwa vierundzwanzig Stunden vom Schnitt bis zu dem Moment, an dem die feine rosa Linie vollständig verschwunden war). Dann der Vorfall, als ich auf dem Flughafen von San Francisco plötzlich einen Mann auf Suaheli ansprach (was war das für eine Überraschung für uns beide), oder als mir fünfundzwanzig Grands jetés im Ballettsaal gelangen, ohne dass ich stolperte. Damals ermahnte mich Mama ernsthaft, mich lieber etwas zurückzuhalten, wenigstens in der Öffentlichkeit. Und da entdeckte ich dann mich selbst, nicht einfach nur Clara, das Mädchen, sondern Clara, das Engelblut, Clara, die Übernatürliche.
Nun dreht sich in meinem neuen Tagebuch (schlicht, schwarz, Moleskine) beinahe alles um meine Aufgabe: Skizzen, Notizen, Einzelheiten über die Vision, vor allem, wenn es dabei um den geheimnisvollen Jungen geht. Er ist ständig in meinen Gedanken, wenn auch nur am Rande – außer in jenen verwirrenden Momenten, wenn er ins Rampenlicht tritt.
Ich lerne ihn allmählich an seiner Silhouette kennen: den Schwung seiner breiten Schultern, sein mit Sorgfalt zerzaustes Haar – von einem dunklen warmen Braunton und so lang, dass es gerade seine Ohren bedeckt und im Nacken an seinen Kragen reicht. Die Hände hat er immer in den Taschen seiner schwarzen Jacke, die irgendwie flauschig ist, wie mir auffällt, vielleicht Fleece. Seinen Körper hat er immer ein wenig zur Seite geneigt, so als wolle er jeden Moment weggehen. Er wirkt schlank, aber kräftig. Wenn er sich gerade umdrehen will, erahne ich den Umriss seiner Wange, und jedes Mal fängt mein Herz an, schneller zu schlagen, und meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Wie wird er mich wohl finden, überlege ich.
Ich will ihn mit meinem Anblick überwältigen. Wenn ich ihm im Wald erscheine, wenn er sich endlich umdreht und mich dort stehen sieht, will ich zumindest wie ein Engel aussehen. Ich will von innen heraus leuchten und zu schweben scheinen wie meine Mutter.
Ich weiß, dass ich nicht übel aussehe. Wir Menschen mit Engelblut sind ziemlich attraktiv. Ich habe eine reine Haut, und meine Lippen sind von Natur aus rosig, also benutze ich nichts weiter als Lipgloss. Angeblich habe ich sehr schöne Knie. Aber ich bin zu groß und zu mager, dabei nicht schlank wie ein Supermodel, ich sehe eher aus wie ein Storch und scheine nur aus Armen und Beinen zu bestehen. Und meine Augen, die in manchem Licht gewitterwolkengrau wirken und in anderem Licht metallisch graublau, sind irgendwie zu groß für mein Gesicht.
Mein Haar ist das Beste an mir, es ist lang und wellig, goldblond mit rötlichem Schimmer. Das Problem mit meinem Haar ist bloß, dass es total widerspenstig ist. Die langen Strähnen verheddern sich. Sie bleiben überall hängen: in Reißverschlüssen, Autotüren, im Essen. Es bringt auch nichts, wenn ich sie im Nacken zusammenbinde oder zu einem Zopf flechte. Mein Haar ist wie ein lebendiges Wesen, das sich losreißen will. Kaum habe ich es einigermaßen im Griff, hängen mir schon wieder Strähnen im Gesicht, und kaum ist eine Stunde vergangen, hat es sich schon vollständig befreit. Es ist einfach nicht zu bändigen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Bei meinem Glück werde ich es also wahrscheinlich nicht rechtzeitig schaffen, den Jungen im Wald zu retten, weil sich eine Meile vom Ziel entfernt mein Haar in den Ästen eines Baums verfangen hat.
«Clara, dein Telefon klingelt!», ruft Mama aus der Küche. Ich fahre zusammen und springe auf. Mein Tagebuch liegt aufgeschlagen auf dem Schreibtisch vor mir, darin eine sorgfältige Skizze vom Hinterkopf des Jungen, von seinem Nacken, dem zerzausten Haar, der Andeutung einer Wange und der Ahnung von Wimpern. Ich kann mich nicht erinnern, das gezeichnet zu haben.
«Okay!», rufe ich zurück. Ich klappe das Tagebuch zu und schiebe es unter mein Algebrabuch. Dann laufe ich nach unten. Es riecht wie in einer Bäckerei. Morgen ist Thanksgiving, und Mama hat Kuchen gebacken. Sie trägt ihre Fünfziger-Jahre-Hausfrauenschürze (die sie tatsächlich auch seit den fünfziger Jahren besitzt, obwohl sie damals keine Hausfrau war, wie sie mir versichert), und die Schürze ist über und über mit Mehl besprenkelt. Sie hält mir das Telefon hin.
«Dein Vater.»
Ich schaue sie an und ziehe in stummer Frage eine Augenbraue hoch.
«Keine Ahnung», sagt sie. Sie gibt mir das Telefon, dann dreht sie sich um und verlässt diskret
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