Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
ist noch nicht mal neun Uhr, und ich würde am liebsten schon wieder nach Hause gehen. Als Nächstes gehe ich in den Leistungskurs Analysis, die Schulglocke ertönt, und das ganze Drama fängt von vorn an. Deine Haare, deine Haare, so hübsch. Und dann noch einmal, in Kunst in der dritten Stunde, als ob sie alle am liebsten mich und mein atemberaubendes Haar zeichnen würden.
Und die vierte Stunde, Leistungskurs Staatsbürgerkunde, ist noch schlimmer. Christian ist da.
«Noch mal hallo», sagt er, als ich in der Tür stehe und ihn anstaune.
Allzu überrascht sollte ich wohl nicht sein. An der Jackson Hole High gibt es nur etwa sechshundert Schüler, also ist die Möglichkeit groß, dass wir den einen oder anderen Kurs gemeinsam haben. Auch Tucker sollte eigentlich in diesem Kurs sein, soweit ich gesehen hatte.
Wo zum … Teufel ist Tucker denn nur heute Morgen? Da fällt mir auf, dass ich auch Wendy noch nicht gesehen habe.
«Willst du reinkommen?», fragt Christian.
Ich lasse mich auf den Platz neben ihm sinken und wühle in meiner Tasche nach meinem Notizblock und einem Kugelschreiber. Ich hole tief Luft und atme langsam wieder aus, drehe den Kopf von der einen Seite zur anderen, weil ich die Spannung im Nacken etwas lockern will.
«Anstrengender Tag heute?», fragt er.
«Du hast ja keine Ahnung.»
Genau in dem Moment stürmt Tucker rein.
«Den ganzen Tag hab ich schon nach dir gesucht», sage ich, als er sich auf den freien Platz auf der anderen Seite neben mich setzt. «Bist du gerade erst in die Schule gekommen?»
«Ja. Probleme mit dem Wagen», antwortet er. «Wir haben zu Hause so eine alte Karre, mit der wir nur auf der Ranch herumfahren, und die wollte heute Morgen nicht anspringen. Du hast ja schon meinen Truck für einen Schrotthaufen gehalten, da bin ich mal gespannt, was du über diese Karre sagst.»
«Ich habe Bluebell überhaupt nicht für Schrott gehalten», protestiere ich.
Er räuspert sich, lächelt dann. «Wie findest du das? Wir sind in einem Kurs zusammen, du und ich, und dieses Jahr musste ich nicht mal jemanden bestechen.»
Ich lache. «Du hast letztes Jahr jemanden bestochen?»
«Nicht so wortwörtlich», gibt Tucker zu. «Ich habe Mrs Lowell, die Dame im Büro, die für die Einteilung in die Kurse zuständig ist, richtig lieb gebeten, ob sie mir nicht noch einen Platz in Englische Geschichte beschaffen kann. Und das quasi in letzter Minute, also, genauer gesagt, in den letzten zehn Minuten vor Kursbeginn. Ich bin mit ihrer Tochter befreundet, das hat geholfen.»
«Aber wieso …?»
Er lacht. «Du bist richtig süß, wenn du auf der Leitung stehst.»
«Wegen mir? Nie im Leben. Du hast mich gehasst. Ich war doch die Großstadt-Tussi aus Kalifornien, die deinen Truck beleidigt hat.»
Er grinst. Verblüfft schüttele ich den Kopf.
«Du bist verrückt, weißt du das.»
«Auweia, und ich dachte, ich bin ganz lieb und romantisch und so was.»
«Ja klar. Du bist also mit Mrs Lowells Tochter befreundet. Wie heißt sie?», frage ich in gespielter Eifersucht.
«Allison. Ein nettes Mädchen. Sie war eine von denen, die ich letztes Jahr zum Abschlussball begleitet habe.»
«Hübsch?»
«Na ja, sie hat rotes Haar. Ich stehe irgendwie auf rotes Haar», sagt er. Ich knuffe ihn leicht in den Arm. «He. Ich stehe auch auf taffe Mädchen.»
Wieder muss ich lachen. Da steigt in mir eine Welle von Enttäuschung auf, so heftig, dass sie mir sofort das Lächeln aus dem Gesicht wischt.
Christian.
So was passiert mir in letzter Zeit immer wieder. Manchmal, und zwar meist, wenn ich am allerwenigsten damit rechne, ist es so, als hätte ich plötzlich Zugang zu den Köpfen anderer Leute. Wie jetzt, zum Beispiel; ich nehme Christians Gegenwart an meiner anderen Seite so deutlich wahr, dass es mir vorkommt, als bohrte er mit den Blicken Löcher in mich. Ich empfange nicht wirklich Worte, sondern eher das, was er fühlt – ihm fällt auf, wie natürlich es für mich ist, dieses amüsante Gespräch mit Tucker zu führen. Er wünscht, ich würde mit ihm so herumblödeln, wir könnten endlich miteinander reden, eine Verbindung zwischen uns herstellen. Er will mich auch so zum Lachen bringen.
Das alles zu wissen ist übrigens echt scheiße. Meine Mutter nennt es Empathie, ein besonderes Einfühlungsvermögen; sie sagt, es ist eine seltene Gabe unter uns Wesen mit Engelblut. Seltene Gabe, dass ich nicht lache. Ich wüsste gern, ob man das umtauschen kann.
Tucker schaut über meine Schulter
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