Unendlichkeit
Leiter in den letzten Wochen so oft auf und ab geklettert, dass er schon fast beunruhigt war, weil er keinerlei Höhenangst mehr verspürte. Hinter der Caisson-Wand zogen die geologischen Epochen an ihm vorbei. Seit dem Ereignis waren neunhunderttausend Jahre vergangen. Zumeist handelte es sich um Permafrost-Schichten – typisch für die subpolaren Breiten von Resurgam, wo der Boden niemals auftaute. Weiter unten – näher am Ereignis – hatten spätere Einschläge eine Schicht Regolith abgelagert. Das Ereignis selbst war als haarfeine schwarze Linie zu erkennen – die Asche der brennenden Wälder.
Der Boden der Grube war nicht eben, sondern setzte sich in immer schmaler werdenden Stufen bis in eine Tiefe von vierzig Metern fort. Man hatte zusätzliche Scheinwerfer heruntergebracht, um das Dunkel zu erhellen. Hier ging es auf engstem Raum zu wie in einem Bienenstock. Dank der schützenden Wände war vom Wind hier nichts zu spüren. Gearbeitet wurde nahezu lautlos. Das Grabungsteam kniete auf Matten auf dem Boden und hantierte mit Präzisionsinstrumenten, die man in früheren Zeiten vielleicht für chirurgische Eingriffe verwendet hätte. Drei von den Leuten waren junge Studenten aus Cuvier – auf Resurgam geboren. Neben ihnen lauerte ein Servomat auf Befehle. In den Frühphasen einer Grabung setzte man durchaus Maschinen ein, doch die abschließenden Arbeiten konnte man ihnen nicht allein überlassen. Bei der Gruppe saß eine Frau mit einem Notepad auf dem Schoß, dessen Bildschirm eine kladistische Klassifizierung amarantinischer Schädel zeigte. Die Frau bemerkte Sylveste erst jetzt – er war sehr vorsichtig aufgetreten –, stand hastig auf und klappte das Notepad zu. Sie trug einen Wintermantel, das schwarze Haar hing ihr in die Stirn und bildete über den Brauen eine schnurgerade Linie.
»Sie hatten Recht«, sagte sie. »Was immer es auch sein mag, es ist riesig. Und es scheint erstaunlich gut erhalten zu sein.«
»Irgendwelche Theorien, Pascale?«
»Das ist doch wohl eher Ihr Gebiet? Ich verfasse nur die Kommentare.« Pascale Dubois war eine junge Journalistin aus Cuvier, die von Anfang an über die Ausgrabungen berichtet hatte. Sie wühlte oft Seite an Seite mit den echten Archäologen im Dreck und hatte auch ihr Fachchinesisch gelernt. »Die Leichen sind grausig, finden Sie nicht? Obwohl es Aliens sind, spürt man förmlich, wie sie gelitten haben müssen.«
An einer Seite des Schachts hatte man dicht neben den Stufen, die weiter in die Tiefe führten, zwei Grabkammern mit Steinwänden entdeckt. Diese Kammern waren fast unversehrt, obwohl sie – mindestens – neunhunderttausend Jahre lang verschüttet gewesen waren, und die Gebeine lagen immer noch so, dass die Anatomie in groben Zügen erkennbar war. Es waren typisch amarantinische Skelette, aber auf den ersten Blick hätte man sie – wenn man nicht gerade Anthropologe war – auch für menschliche Überreste halten können. Sie hatten vier Gliedmaßen, davon zwei Beine, waren etwa so groß wie Menschen und zeigten oberflächliche Ähnlichkeiten in der Knochenstruktur. Auch das Schädelvolumen war vergleichbar, und die Sinnes- und Atemorgane sowie die Sprechwerkzeuge befanden sich etwa an den gleichen Stellen wie beim Menschen. Doch die Schädel der beiden Amarantin waren langgestreckt und vogelartig, und zwischen den tiefen Augenhöhlen sprang ein Knochenwulst vor, der sich bis zur Spitze des schnabelähnlich ausgebildeten Oberkiefers hinunterzog. Da und dort spannten sich vertrocknete, bräunliche Gewebestränge über die Gebeine und hielten die Körper in einer Hockstellung, die qualvoll anmutete. Es handelte sich nicht um einen Fossilienfund im eigentlichen Sinne: es hatte keine Mineralisierung stattgefunden, und die Grabkammern waren bis auf die Knochen und eine Hand voll technomischer Artefakte, die man mit den Toten begraben hatte, leer.
Sylveste bückte sich und strich über einen der Schädel. »Vielleicht«, sagte er, »wollte man diesen Eindruck erwecken.«
»Nein«, widersprach Pascale. »Die Knochen wurden durch das trocknende Gewebe verdreht.«
»Es sei denn, sie wären so begraben worden.«
Während er den Schädel betastete – die Handschuhe übermittelten die taktilen Informationen an seine Fingerspitzen –, sah er sich plötzlich in einen gelben Raum hoch über Chasm City zurückversetzt. An den Wänden hingen Aquarelle von Methan-Eis-Landschaften. Livrierte Servomaten mit Naschwerk und Likören fuhren zwischen den
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