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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Gästen hindurch; bunte Kreppbahnen hingen von der durchsichtigen Decke; kitschige entoptische Figuren im Stil der Zeit – Seraphim, Cherubim, Kolibris und Feen – schwirrten durch die Luft. Man hatte Gäste: zumeist Freunde der Familie, die er entweder kaum kannte oder verabscheute. Eigene Freunde hatte er nur wenige. Sein Vater kam wie üblich zu spät: die Party neigte sich bereits dem Ende entgegen, als Calvin endlich zu erscheinen geruhte. Das war nicht ungewöhnlich; Calvin steckte damals gerade tief in seinem letzten und größten Projekt, und schon dessen Verwirklichung war im Grunde nicht weniger als ein langsames Sterben gewesen. Der Selbstmord bei der Vollendung seines Lebenswerkes war nur die Krönung.
    Sylveste erinnerte sich, wie ihm sein Vater eine Schachtel überreichte, deren Seiten mit verschlungenen Ribonuklein-Strängen verziert waren.
    »Mach sie auf«, hatte Calvin gesagt.
    Er hatte die Schachtel genommen. Sie war ganz leicht. Als er den Deckel herunterriss, kam ein Nest aus faserigem Packmaterial zum Vorschein. Darin lag ein braunfleckiges, rundes Ding von der gleichen Farbe wie die Schachtel. Der obere Teil eines Schädels, offensichtlich menschlicher Herkunft. Der Unterkiefer fehlte.
    Im Raum war es still geworden.
    »Ist das alles?«, hatte Sylveste gefragt, gerade so laut, dass alle Anwesenden es hören konnten. »Ein alter Knochen? Vielen Dank, Dad, ich bin tief beschämt.«
    »Dazu hast du auch allen Grund«, versetzte Calvin.
    Calvin hatte leider Recht, Sylveste begriff es im nächsten Moment. Der Schädel war unglaublich wertvoll; zweihunderttausend Jahre alt – eine Frau aus Atapuerca, Spanien, wie er wenig später erfuhr. Der Zeitpunkt ihres Todes war schon aus dem Kontext des Fundorts offensichtlich, aber die Archäologen hatten die Schätzung mit den modernsten Verfahren ihrer Zeit noch verfeinert: Kalium-Argon-Bestimmung der Felsen ihrer Begräbnishöhle, Uran-System-Untersuchung der Travertin-Ablagerungen an den Wänden, Fission-Track- Analyse der Vulkanglaspartikel und Thermolumineszenz-Datierung von verbrannten Feuersteinfragmenten. Alles Techniken, die – mit einigen Verbesserungen, was die Genauigkeit und die Bedienerfreundlichkeit anging – auch von den Grabungsteams auf Resurgam noch eingesetzt wurden. Die Physik lieferte nur eine begrenzte Zahl von Methoden zur Altersbestimmung. Eigentlich hätte Sylveste sofort begreifen und den Schädel richtig einordnen müssen: er war das älteste Relikt der Menschheit auf Yellowstone, vor Jahrhunderten ins Epsilon-Eridani-System gebracht und beim Kolonialaufstand verloren gegangen. Dass Calvin ihn wiedergefunden hatte, war an sich schon ein kleines Wunder.
    Sylveste wurde rot, allerdings weniger vor Scham über seine Undankbarkeit, als weil er seine Unwissenheit so offen kundgetan hatte, obwohl es doch so einfach gewesen wäre, sie zu kaschieren. Eine solche Schwäche sollte ihm niemals wieder unterlaufen, gelobte er sich. Jahre später hatte er den Schädel als dauerhafte Mahnung an diesen Vorsatz mit nach Resurgam genommen.
    Er durfte jetzt nicht scheitern.
    »Wenn Ihre Vermutung richtig ist«, sagte Pascale, »dann muss es für diese Art der Beisetzung einen Grund geben.«
    »Vielleicht sollte es eine Warnung sein«, sagte Sylveste und stieg zu den drei Studenten hinunter.
    »So etwas hatte ich schon befürchtet«, sagte Pascale und folgte ihm. »Und worauf sollte sich eine so schreckliche Warnung bezogen haben?«
    Die Frage war wohl eher rhetorisch, dachte Sylveste. Sie kannte seine Ansichten über die Amarantin nur zu gut, und es bereitete ihr offenbar ein diebisches Vergnügen, ihn damit zu necken. Als wollte sie ihn so lange zwingen, seine Theorien zu wiederholen, bis irgendwann ein logischer Fehler auftauchte; ein Fehler, von dem sogar er selbst zugeben musste, dass er seine ganze Argumentation ins Wanken brachte.
    »Auf das Ereignis«, sagte Sylveste und fuhr die feine schwarze Linie hinter dem nächsten Caisson nach.
    »Das Ereignis ist über die Amarantin hereingebrochen«, wandte Pascale ein. »Sie hatten dabei nichts mitzureden. Und es ging sehr schnell. Sie hätten keine Zeit gehabt, mit der Beisetzung ihrer Leichen finstere Drohungen auszustoßen, immer vorausgesetzt, sie hätten überhaupt geahnt, was ihnen bevorstand.«
    »Sie hatten die Götter erzürnt«, sagte Sylveste.
    »Ja«, nickte Pascale. »Wir sind uns wohl alle insoweit einig, dass sie das Ereignis aus ihren rigiden Glaubensvorstellungen heraus als

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