Ungeahnte Nebenwirkungen
meine, ich habe vor der Tür gewartet, und nun wache ich auf einer Couch auf«, konkretisierte die Schuhverkäuferin ihre Frage.
Sie brauchte noch Zeit, um sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Dummerweise hatte sie sich keinen Plan B zurechtgelegt, den sie jetzt hätte zücken und umsetzen können.
Erstmals glitt so etwas wie ein Lächeln über Mirjams angespanntes Gesicht. »Ich glaube, du hast schon die Bekanntschaft mit unserem Hausgeist, Mrs. Withcomb, gemacht?« fragte sie. Nicole nickte zustimmend. Das musste die rotwangige Frau aus der Parterrewohnung sein. »Als ich nach Hause kam, fing sie mich an der Haustür ab und eröffnete mir, dass ich Besuch hätte. Erst dachte ich, Ralf hätte meine Einladung nun doch noch angenommen, aber das war eigenartig, denn er hätte sich bestimmt telefonisch angemeldet«, erklärte Mirjam nach kurzem Zögern. »Mrs. Withcomb sagte«, das Lächeln erschien wieder auf Mirjams Gesicht, als sie fortfuhr, »es sei eine Frau, eine Europäerin, wie sie betonte. Und die sitze jetzt vor meiner Tür und warte. Sie ließ es sich nicht ausreden, mit hochzukommen, um nach dir zu sehen. Als sie dich da so sitzen und schlafen sah, entschuldigte sie sich sehr wortreich bei mir, dass sie dich nicht in ihre Wohnung gebracht hatte, doch du hättest ihre Einladung nicht annehmen wollen.«
Nicole grinste bei der Vorstellung der Mrs. Withcomb, die sich bei Mirjam für etwas rechtfertigte, was außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs lag, doch wahrscheinlich sah die gute Frau das ganz anders.
»Wir haben dich dann zusammen auf die Couch gepackt. Du hast so tief geschlafen, dass du davon nichts mitbekommen hast. Ich nehme an, du bist ziemlich geschafft von der langen Reise«, schloss Mirjam ihre Erklärung ab.
Nicole nickte zwar, doch sie würde jetzt bestimmt nicht mehr schlafen. Sie hatte mit Mirjam etwas zu bereinigen, und je eher sie ihre Entschuldigung an die Frau brachte, um so eher könnte sie sich wieder ohne Scham im Spiegel in die Augen sehen.
Nicole setzte sich aufrecht hin. Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das auf dem kleinen Tisch vor ihr stand.
Mirjam, die sich wieder in Schweigen hüllte, spielte mit ihren Händen. Sie war mindestens ebenso nervös wie sie selbst, stellte Nicole erstaunt fest. Das gab ihr endlich den Mut, mit ihrem Geständnis zu beginnen.
»Ich bin gekommen, um mich bei dir für mein unmögliches Verhalten zu entschuldigen«, sagte sie so leise, dass Mirjam sich nach vorn neigen musste, um sie zu verstehen.
Nicole holte tief Luft. Den Einstieg hatte sie zwar hinter sich gebracht, doch das Schwerste stand ihr noch bevor.
»Ich wollte dich nie verletzen oder dich aus meinem Leben rauswerfen«, begann Nicole wieder stockend. »Aber ich war eifersüchtig, rasend eifersüchtig auf Michaela.«
Mirjams Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. Sie wollte Nicole ins Wort fallen, doch die hinderte sie daran, indem sie hastig weitersprach.
»Die Eifersucht war nicht berechtigt, ich weiß, und ich bitte dich um Verzeihung dafür. Vielleicht verstehst du meine Reaktionen auf Michaela, wenn ich dir sage, dass ich glaubte, sie sei deine Geliebte gewesen?« schloss Nicole fast flehend.
Nun war es an Mirjam, verwirrt die Augenbrauen zu heben. »Was meinst du mit ›Geliebte‹?« fragte sie.
Nicole erhob sich von der Couch. Sie ging um den kleinen Salontisch herum und setzte sich neben Mirjam auf das enge Sofa. Mirjam rutschte vorsorglich etwas zur Seite, doch sie hinderte Nicole nicht daran, Platz zu nehmen.
Wie gern hätte sie Mirjam jetzt berührt, sie einfach nur in ihren Armen gehalten und ihr die tausend Liebesschwüre, die sie ihr in Gedanken schon so oft gemacht hatte, ins Ohr geflüstert!
Nicole faltete ihre Beine zum Schneidersitz zusammen und drehte sich so, dass sie Mirjam direkt ansehen konnte. »Bitte, Mirjam«, sagte sie leise, »lass mich in deine Augen sehen!«
Endlich drehte sich Mirjam um. Sie grinste, als sie Nicole wie eine Indianerin dasitzen sah, doch sie tat es ihr gleich.
»Das Pow-Wow kann beginnen«, scherzte die Zahnärztin unerwartet locker und nahm damit dem Schweigen, das sich zwischen ihnen festgesetzt hatte, die Schärfe.
»Ich habe nie verstanden, wie andere Familien funktionieren. Bei uns zu Hause gab es eine klare Rollenverteilung, an die sich alle zu halten hatten. Irgendwie kam mir manchmal der Gedanke, dass keiner von uns wirklich glücklich war in dieser Schicksalsgemeinschaft. Wir Kinder wurden
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