Ungeahnte Nebenwirkungen
lauter, je länger die Fahrt dauerte. Der Taxifahrer übernahm die Rolle des Reiseführers, nachdem ihm Nicole erklärt hatte, dass sie Wellington zum ersten Mal besuchte. Mit halbem Ohr hörte sie ihm zu, wie er ihr vom Ursprung des Windes erzählte, von den Museen, dem botanischen und dem zoologischen Garten und den vielen kulturellen Highlights, die diese Stadt zu bieten hatte. Nicoles größte Sorge galt im Moment der Tatsache, dass ihr gesprächiger Freund auf der offensichtlich falschen Straßenseite in halsbrecherischem Tempo durch die nun immer dichter bebauten Gebiete raste.
Glücklicherweise kannte sich der Taxifahrer in den Straßen Wellingtons aus. Er setzte sie vor der gewünschten Hausnummer ab, ehe Nicole dem Drang, sich zu übergeben, nachgeben musste.
Mit sehr weichen Knien und einem verdächtigen Rauschen in den Ohren stieg die Schuhverkäuferin die Treppe zu dem Eingang des Mehrfamilienhauses hinauf. Wie sie anhand der Klingelleiste erkannte, wohnten in diesem nichtssagenden, weiß getünchten Haus acht Parteien. Der Name bei der obersten Klingel fehlte. Vermutlich hätte dort »Mirjam Schiesser« stehen müssen, überlegte Nicole.
Nicole zögerte. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand schwebte über dem Klingelknopf, doch sie konnte sich nicht überwinden, ihn zu drücken.
Die endlosen Stunden des Fluges über drei Kontinente hatte sie damit zugebracht, sich die passenden Begrüßungsworte für Mirjam zurechtzulegen. Jetzt war sie am Ziel ihrer Sehnsucht, die ihr wochenlang den Schlaf geraubt hatte, angekommen und brachte es nicht fertig, den letzten, entscheidenden Schritt zu machen!
Nicole gab sich einen Ruck. »Nun sei nicht so feige!« schimpfte sie laut vor sich hin. »Drück endlich auf die Klingel!«
Aus den Augenwinkeln nahm sie die Bewegung eines Vorhangs wahr. Sie wurde beobachtet, schloss sie scharfsinnig. Hier schienen die Menschen wohl doch nicht so anders zu sein als zu Hause, zumindest was die Neugier betraf.
Vorsichtig ließ Nicole ihren Blick über die Fassade gleiten. Tatsächlich bewegte sich nicht nur ein Vorhang, wie sie amüsiert feststellte. Sie betrachtete die nähere Umgebung, da sie sich noch immer nicht zu einer anderen Aktion überwinden konnte. Die Häuser an dieser Straße schienen alle vom gleichen Architekten entworfen. Sie glichen einander sowohl in der Größe als auch im Aussehen. Sogar die Anzahl Fenster und der weiße Anstrich stimmten überein. Die schnurgerade Straße, die an einer offenbar vielbefahrenen Kreuzung endete, trennte die Häuserzeile von ihrem Gegenstück auf der anderen Seite, die ebenfalls in Weiß gehalten war. Sehr phantasievoll, entschied Nicole mit ironischem Lächeln und wandte sich endlich wieder ihrem eigentlichen Problem zu.
In dem Moment öffnete sich die Tür. Eine rotwangige Frau trat nach draußen und fragte Nicole ziemlich unwirsch in englischer Sprache, was sie hier zu suchen habe.
Nicole war zusammengezuckt und versuchte nun ihre Stimme wiederzufinden.
»Ich, äh, also ich«, begann sie zögernd.
Die andere unterbrach sie aber schon mit einem Schwall von Worten, von denen Nicole nur die Hälfte verstand. Vielleicht war das auch besser so, denn die Dame schien nicht eben gute Laune zu haben.
Allmählich wurde Nicole ärgerlich. Sie fühlte sich von der langen Reise erschlagen, ihr Innerstes glich einem Schlachtfeld, sie wollte doch nur zu ihrer Freundin. Wenn sie nicht bald ins Haus gelangte, würde sie möglicherweise noch den letzten Funken Mut, der sie bis hierher gebracht hatte, verlieren.
»Bitte!« Nicole klang jetzt nicht mehr sehr freundlich. »Ich besuche meine Freundin Mirjam Schiesser, die hier wohnt!« fiel sie der ungastlichen Frau ins Wort.
Auf dem runden Gesicht erschien ein Lächeln, das immer breiter wurde und schließlich von einem Ohr bis zum anderen reichte.
»Mirjam Schiesser?« fragte die Frau. »Zu Mirjam Schiesser wollen Sie?«
Nicole, überrumpelt durch den plötzlichen Stimmungsumschwung, nickte.
»Kommen Sie herein«, forderte die andere sie nun zuvorkommend auf. »Wissen Sie, hier lauern wie überall ziemlich zwielichtige Gestalten herum. Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie so angefahren habe, aber man kann nicht vorsichtig genug sein!«
Die Frau redete ohne Punkt und Komma in einer Sprache, die entfernt dem Englisch glich, das Nicole einst in mühseliger Büffelei als Austauschstudentin in London gelernt hatte.
Inzwischen waren sie bei der letzten Treppe angelangt, die Nicoles etwas
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