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Ungeduld des Herzens.

Ungeduld des Herzens.

Titel: Ungeduld des Herzens. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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der Hut sein, nicht die kaum merkliche Grenze zu überschreiten, wo Anteilnahme, statt zu beschwichtigen, die leicht Verwundbare noch mehr verletzte; einerseits verlangte sie, verwöhnt wie sie war, daß alles sie bediente wie eine Prinzessin und verhätschelte wie ein Kind, aber schon im nächsten Augenblick konnte diese Rücksicht sie erbittern, weil sie ihr die eigene Hilflosigkeit deutlicher zum Bewußtsein brachte. Rückte man etwa das Taburett gefällig heran, um ihr den anstrengenden Handgriff nach Buch und Tasse möglichst zu ersparen, so herrschte sie einen blitzenden Auges an: »Glauben Sie, daß ich mir nicht selbst nehmen kann, was ich will?« Und wie ein eingegittertes Tier sich manchmal ohne jeden Anlaß gegen den sonst so umschmeichelten Wärter wirft, kam ab und zu eine boshafte Lust über die Gelähmte, unsere unbefangene Stimmung mit einem plötzlichenPrankenschlag zu zerfleischen, indem sie ganz unvermittelt von sich selbst als »einem elenden Krüppel« sprach. In solchen gespannten Augenblicken mußte man wirklich alle Kraft in sich zusammennehmen, um nicht ungerecht gegen ihren aggressiven Unmut zu werden.
    Aber zu meinem eigenen Erstaunen fand ich immer wieder diese Kraft. Immer wachsen einer ersten Erkenntnis im Menschlichen andere geheimnisvoll zu, und wem nur einmal die Fähigkeit zuteil ward, eine einzige Form irdischen Leidens wahrhaft mitzufühlen, der versteht durch diese magische Belehrung alle Formen, auch die fremdartigsten und scheinbar widersinnigen. So ließ ich mich nicht beirren durch Ediths gelegentliche Revolten; im Gegenteil, je ungerechter und schmerzlicher ihre Ausbrüche waren, umsomehr erschütterten sie mich; allmählich verstand ich auch, warum mein Kommen dem Vater und Ilona, warum mein Mitdabeisein dem ganzen Hause so willkommen war. Ein lang dauerndes Leiden ermüdet im allgemeinen nicht nur den Kranken, sondern auch das Mitleid der andern; starke Gefühle lassen sich nicht ins Ungemessene verlängern. Nun litten sicherlich der Vater und die Freundin bis in den Grund ihrer Seele mit dieser armen Ungeduldigen, aber sie litten schon in einer erschöpften und resignierten Art. Sie nahmen die Kranke als Kranke, die Tatsache der Lähmung als Tatsache, sie warteten jedesmal gesenkten Blicks, bis diese kurzen Nervengewitter sich ausgetobt. Aber sie erschraken nicht mehr so, wie ich jedesmal von neuem erschrak. Ich dagegen, der einzige, dem ihr Leiden eine immer erneute Erschütterung bedeutete, wurde bald der einzige, vor dem sie sich ihrer Maßlosigkeit schämte. Ich brauchte nur, wenn sie unbeherrscht auffuhr, ein kleines mahnendes Wort wie »Aber liebes Fräulein Edith« zu sagen, und schon duckte sich gehorsam der ganze Blick. Sie errötete, und man sah, am liebsten wäre sie, wenn ihre Füße sienicht gefesselt hätten, vor sich selber geflüchtet. Und nie konnte ich von ihr Abschied nehmen, ohne daß sie mit einer gewissen flehenden Art, die mir durch und durch ging, gesagt hätte: »Aber Sie kommen doch morgen wieder? Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse wegen all der Dummheiten, die ich heute gesagt habe?« In solchen Minuten fühlte ich eine Art rätselhaften Staunens, daß ich, der ich doch nichts zu geben hatte als mein ehrliches Mitleid, soviel Macht besaß über andere Menschen.
    Aber es ist der Sinn der Jugend, daß jede neue Erkenntnis ihr zu Exaltation wird und sie, einmal angeschwungen von einem Gefühl, davon nicht genug zu bekommen vermag. Eine sonderbare Verwandlung begann in mir, sobald ich entdeckte, daß dies mein Mitfühlen eine Kraft war, die nicht nur mich selbst geradezu lustvoll erregte, sondern auch über mich hinaus wohltätig wirkte: seit ich zum erstenmal dieser neuen Fähigkeit des Mitleidens Einlaß in mich gegeben, schien es mir, als sei ein Toxin in mein Blut eingedrungen und hätte es wärmer, röter, geschwinder, pulsender, vehementer gemacht. Mit einem Schlage verstand ich die Stumpfheit nicht mehr, in der ich bislang so schlendrig dahingelebt wie in einer grauen gleichgültigen Dämmerung. Hundert Dinge beginnen mich zu erregen, zu beschäftigen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen. Überall gewahre ich, als wäre mit jenem ersten Blick in ein fremdes Leiden ein schärferes, wissenderes Auge in mir erwacht, Einzelheiten, die mich beschäftigen, begeistern, erschüttern. Und da doch unsere ganze Welt voll ist, Straße um Straße und Zimmer um Zimmer, mit fühlbarem Schicksal und durchflutet von brennender Not bis zum untersten

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