Unglücklich sein (German Edition)
moderner Zeit bestätigen psychologische Untersuchungen, dass Menschen mit depressiver Verstimmung Denkaufgaben gründlicher angehen und klügere Entscheidungen treffen (Universität Basel, 2011). Sie sehen länger und genauer hin und lassen sich den Blick nicht von einer rosaroten Brille trüben. Sie wissen um die Ungewissheit von allem, was den Eindruck von Gewissheit macht, und kennen die Fragwürdigkeit aller Dinge. Sie sind sich im Klarenüber die Zweifelhaftigkeit des menschlichen Tuns und darüber, wie nichtig die menschliche Existenz im Grunde sein kann. Berührt und bewegt sind sie von der möglichen Tragik des Lebens. Die Gefahr, der sie ausgesetzt sind, ist nicht, das Leben allzu oberflächlich zu betrachten, sondern aus den tiefen Abgründen nicht mehr herauszufinden, womöglich den Zusammenbruch der eigenen »Identität« zu erleben und sich selbst fremd zu werden.
Aber nicht nur von einer überströmenden Flut von Gedanken, sondern auch von wild bewegten Gefühlen ist die Melancholie geprägt. Nur wenige empfinden diese Bewegtheit als Glück, in jedem Fall kann ihr jedoch Sinn zukommen: Wenn es im Leben darum geht, große Gefühle zu empfinden, kann es sich dabei nicht nur um gute Gefühle der Freude, Liebe und Ekstase handeln. Ohne Gefühlsleben in seiner ganzen Spannweite wäre keine Fülle möglich. Daher rührt wohl das scheinbar grundlose Traurigsein: »Eigentlich stimmt bei mir alles, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.« Das Leben, das nur noch die Stimmigkeit kennt, verlangt nach Unstimmigkeit. Die unentwegte Lebensfreude kann erschöpfend sein und bedarf einer Erholung, wie sie die Lebenstrauer darstellt. Um das Menschsein auszuschöpfen und das Leben zu erfüllen, wäre wohl auch das Traurigsein auszukosten bis zur Neige, wenngleich das zunächst sehr fernzuliegen scheint.
Können Menschen auch willentlich traurig sein? Ja, keine Frage, indem sie sich etwa an schmerzliche Erfahrungen wieder erinnern, denn Schmerz verliert sich im Grunde nie, beispielsweise der Schmerz der Trennung von einem geliebten Menschen. Und zu jeder Zeit kann vorsätzlich Weltschmerz empfunden werden, Schmerz über die Vergänglichkeit des Lebens und aller Dinge, vielleicht der Welt selbst, wiewohl das nicht wirklich zu überschauen ist, auch mit allem Aufwand an Wissenschaft nicht. Um das Positive auszubalancieren, die Polarität des Lebens wiederherzustellen und das Glück im Maß zu halten, lässt sich das Traurigsein absichtlich aufrufen, wie dies in einem 1931 von Marlene Dietrich gesungenen Lied von Friedrich Hollaender zum Ausdruck kommt:
Wenn ich mir was wünschen dürfte
Möcht’ ich etwas glücklich sein
Denn wenn ich gar zu glücklich wär’
Hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein.
6.
Depression: Die Krankheit
Die Krankheit der Depression, der »Niedergedrücktheit«, ist im Unterschied zu den bewegten Gefühlen und Gedanken der Melancholie von erstarrten Gefühlen, vom Unwillen und von wirklicher Unfähigkeit zur Reflexion gekennzeichnet. In einem Gespräch wird der Unterschied rasch spürbar. Der Betroffene findet aus dem engen Zirkel seiner Gedankenbewegungen nicht mehr heraus und kann sich selbst nicht mehr helfen, oft auch einfachste Tätigkeiten nicht mehr verrichten. Er braucht Menschen, die mit seinem Einverständnis Verantwortung für ihn übernehmen, Angehörige und Freunde, die ihn jetzt nicht verlassen, Therapeuten, die ihn verhaltenstherapeutisch oder tiefenpsychologisch betreuen, und Ärzte, die sich nach den aktuellen Regeln der Kunst um ihn bemühen.
Dass von der Diagnose Depression auch für die Melancholie inflationärer Gebrauch gemacht wird,treibt die Zahl der Kranken in absurde Höhen. Das ist der öffentlichen Wahrnehmung der Krankheit förderlich, nicht aber dem angemessenen Umgang mit dem jeweiligen Menschen, der im Zustand der Melancholie nicht so sehr Medikamente, sondern Gesprächspartner, im Falle der Krankheit Depression den Arzt als Gesprächspartner und Behandlung braucht. Eine Medikation kann den Stoffwechsel des Hormons Serotonin beeinflussen, auch können Stoffe zugeführt werden, an denen der Körper Mangel leidet, etwa das Vitamin-D-Hormon, dessen Fehlen in nördlichen Ländern an der nicht immer ganz harmlosen Winterdepression beteiligt ist. In Frage steht zudem die Behandlung organischer Probleme, die ein Grund für die Depression oder aber ihre Folge sein können, beispielsweise eine Dysfunktion der Schilddrüse, die Hormonausschüttungen fehlerhaft
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