Unglücklich sein (German Edition)
unterlassen.
Traurig, dass der große Rest der Menschheit dies mittragen muss, dass all die Kinder und Kindeskinder, die es noch geben wird, mit Grauen an ihre Vorfahren denken werden, die nicht bereit waren, die Existenz künftiger Generationen im Blick zu behalten, obwohl sie unentwegt »die Zukunft« im Mund führten. Die Probleme sind offenkundig, aber der Einzelne selbst traut seiner Aktivität zu wenig zu, will nicht so gerne bei sich anfangen und weist lieber Anderen Verantwortung zu. Aus der Erfahrung der Ohnmacht, nicht etwa nur den Mächtigen, sondern mehr noch sich selbst gegenüber, verbreiten sich Melancholie und Depression. Letzten Endes rührt die lähmende Empfindung der Ohnmacht von der Vermutung her, dass die Dinge schon zu weit getrieben sind, als dass sie noch korrigiert werden könnten.
Es kommt nicht darauf an, »Recht zu behalten« mit derlei düsteren Erwartungen. Niemand kann sicher sagen, ob es so kommt. Es kann sich um eine eingeschränkte Wahrnehmung handeln, die einige Schwierigkeiten der bestehenden Welt für das Ganze nimmt. Es war allerdings auch eine eingeschränkte Wahrnehmung, die das Ausmaß der ökologischen Probleme erst herbeigeführt hat. Lange folgten auf beunruhigende Indizien beschwichtigende Antworten: Abwarten, weitere Daten sammeln. Aber wenn zweifelsfrei klar ist, wohin die Dinge driften, ist es zu spät, noch darauf zu reagieren. Diese mögliche Aussichtslosigkeit, diese potenzielle Selbstaufhebung der menschlichen Existenz ist ein Grund für die geradezu metaphysische Melancholie einer kommenden Zeit. Mag es sich auch nur um eine kleine Welt im unendlichen Kosmos handeln, mag nur die unbedeutende Existenz eines Wesens in dieser kleinen Ecke des Weltalls in Frage stehen: Ist es nicht schade drum?
Die Bedeutung, die der Melancholie einer kommenden Zeit zuwächst, kann immerhin, wie schon in früheren Zeiten, darin liegen, reflexive Distanz zu gewinnen und die gefährlichen Selbstverständlichkeiten zu verlieren, in denen Menschen leben, ohne es recht zu bemerken. Die Wahrnehmung einer bedrohlichen Situation wird zum Ausgangspunkt dafür, zur Besinnung zu kommen und erneut nach Sinn zu fragen. Sie vermittelt die Erfahrung einerGrundlosigkeit, die dennoch grundlegend ist, denn mit ihr entsteht ein Bewusstsein davon, welche Bedeutungslosigkeit der menschlichen Existenz eigen sein kann und dass ihr der Boden jederzeit unter den Füßen weggezogen werden kann.
Eine mögliche Antwort darauf ist das neuerliche Bemühen um Sinn in Form von Zielen und Zwecken. Deren Festlegung war lange Zeit die Aufgabe heteronomer Autoritäten in Kirche, Staat und Gesellschaft. In der Moderne wurde die Aufgabe zusehends von ökonomischen Institutionen übernommen, deren Ziele und Zwecke sich jedoch in Wirtschaftswachstum und einer Eroberung von Märkten erschöpften. Für autonome moderne Menschen wird es zur Aufgabe ihrer eigenen bewussten Lebensführung, ihrer Lebenskunst, sich Gedanken über Ziele und Zwecke zu machen, die eine sinnvolle Perspektive eröffnen können, um aus freien Stücken einem Sollen zu folgen, auch wenn ohne Weiteres etwas Anderes gewollt werden könnte. Eine Perspektive für den Einzelnen, die zugleich weit über ihn selbst hinausweist, könnte die Arbeit an einer ökologischen und sozialen Gesellschaft und Weltgesellschaft sein, verbunden mit der Bereitschaft, sich selbst immer von Neuem zu fragen, welches eigene Tun, welches Lassen dazu beiträgt, welches nicht.
Sind auf dem Weg dorthin Revolten und Revolutionen zu befürchten oder zu erhoffen? Die Melancholiker neigen nicht dazu. Ihre Stärke ist ihre Sensibilität , ihr Gespür für Sinn und dessen Fehlen; darin besteht ihr Geschenk an die Gesellschaft. Sensibilität ist das einzige menschliche Vermögen, das noch Rettung verspricht. Die Schattenseiten des Glücks sind schon aus diesem Grund nicht sinnlos: Erheblich früher als die Glücklichen bemerken die Unglücklichen eine Gefahr, eine Fehlentwicklung, ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit. Eher als bei den Optimisten, von denen nicht wenige den Anblick eines problembeladenen Menschen bereits als Behinderung ihrer positiven Weltsicht empfinden, findet sich Mitgefühl bei den Melancholikern: Eine Ermutigung zum Unglücklichsein.
Wenn dann zum Unglücklichsein noch Gründe für eine Empörung hinzukommen, setzen auch Melancholiker sich in Bewegung. Sie tun es nicht für sich, etwa um die Melancholie unter anderen, besseren Umständen zu verlieren: Die ist
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