Unglücklich sein (German Edition)
genaueren Hinhören lassen sich Depressionen im Plural von der echten Depression im Singular unterscheiden. Traditionell werden Depressionen und das Depressivsein auch Melancholie genannt. Viele derer, bei denen eine Depression diagnostiziert wird, sind eigentlich melancholisch. Sie leiden an Depressionen, nicht an der Krankheit Depression. Melancholie ist eine Art und Weise des menschlichen Seins, eine Seinsweise der Seele, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört, ohne dass dies in irgendeiner Weise als krankhaft gelten könnte.
Das menschliche Leben kennt eben nicht nur Lebensfreude, sondern auch Lebenstrauer , nicht nur das Lachen, sondern auch das Weinen, alles zu seiner Zeit. In der alttestamentarischen Weisheit des Predigers Salomo (7, 3) wird das Trauern sogar dem Lachen vorgezogen, da diese Erfahrung »das Herz bessert«. Jetzt lernt ein Mensch sich selbst noch von einer anderen, abgründigen Seite kennen. Und er lernt Andere anders kennen: Schönwetterfreunde sind jetzt irgendwie anderweitig beschäftigt. Und Andere, die sich weniger penetrant um die immer gleiche gute Laune bemühten, sind jetzt zuverlässig da.
Es gibt regelrechte Zeiten der Melancholie: Wer in der Pubertät angesichts verlorener Kindheitstage und im Herbst angesichts fallender Blätter und kahler Bäume nicht melancholisch wird, macht etwas falsch im Leben. Ob die Melancholie vorübergeht oder lange bleibt, ist dabei nicht von vornherein klar. In vielen Fällen kann sie überwunden werden, aber nirgendwo steht geschrieben, außer in Ratgebern, dass sie überwunden werden muss. Sie kann viele Gründe haben, aktuelle undanhaltende: Menschen »fallen in Depressionen«, wenn sie verlieren, was für sie von Bedeutung ist, eine Beziehung, eine Arbeitsstelle. Aber auch, wenn sie nicht gewinnen, was sie sich erhoffen. Und sogar dann, wenn ein sehnlicher Wunsch in Erfüllung geht und eine unerwartete Leere sich auftut: Wer ein Ziel erreicht, ist nicht darauf gefasst, dass all die Anstrengungen und Entbehrungen jetzt Tränen in die Augen treiben und die ganze Anspannung ins Nichts verpufft.
Depressiv macht auch, dass offenbar nur Idioten in dieser Welt unterwegs sind und lediglich das eigene Ich zweifelsfrei davon ausgenommen ist. Niedergedrückt sind Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, Enttäuschung, Missachtung, Demütigung und Gewalt erfahren. Nichts davon muss akzeptiert werden, aber nichts ist auch für alle Zeiten wirksam zu eliminieren. Zutiefst unglücklich können Menschen sein, wenn sie nicht gemocht und nicht geliebt werden, in der Liebe den geliebten Anderen entbehren müssen oder von ihm verlassen werden. Vor allem aber, wenn sie selbst oder Andere, die ihnen etwas bedeuten,mit Krankheit konfrontiert sind und womöglich der Tod ins Leben hereinbricht.
Tiefe Einschnitte ins Leben sind mit Schmerzen verbunden, die nicht mehr so ohne Weiteres zu lindern sind. Und ganz unfassbar und untröstlich ist der Weltschmerz , der vom Leben und von der Welt überhaupt, wie sie erscheinen, verursacht wird. Auch ohne aktuellen Grund kann er wohlbegründet sein, denn unglücklich machen kann allein schon das Bewusstsein, dass die Zeit des Lebens begrenzt ist, dass dieses Leben und die Liebsten irgendwann verlassen werden müssen. Nichts hat Bestand, alles ist vergänglich, und was vergangen ist, lässt sich nicht mehr zurückholen. Dass überhaupt alles vergeht, lässt sich nicht ändern.
Schmerzlich ist von Grund auf die Einsamkeit der Existenz , die nicht aufgehoben werden kann. Vielleicht war diese Erfahrung Menschen zu allen Zeiten geläufig, aber sie verstärkt sich im selben Maße, in dem das Ich stärker hervortritt. Ich lebe dieses Leben, kein Anderer. Ich muss den Blick in die Abgründe aushalten, die das Unglücklichsein und das Unglück aufreißt. Nur ich bringe diesesLeben letztlich zu Ende, kein Anderer kann mir dies abnehmen. Und ich mache mir Gedanken über das Darüberhinaus, die nur für mich Bedeutung haben, Andere machen sich andere Gedanken und nichts verbindet uns, wenn nicht Liebe, Freundschaft oder wenigstens ein Mögen.
Sich Gedanken zu machen: Für manche Menschen ist dies bereits gleichbedeutend damit, Depressionen zu haben. Melancholiker denken über alles nach, daher sind von jeher so viele Philosophen und Künstler unter ihnen zu finden. Dass vorzugsweise denkende und kreative Menschen von Melancholie erfasst werden, bemerkte bereits der antike Autor des berühmten Textes Problem XXX,1 . In
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