Unglücklich sein (German Edition)
besser erörtern: Kann in der äußersten Situation eine freie Wahl getroffen werden? Die Freiheit zu diesem Schritt könnte eingeschränkt sein. Eine perspektivische Täuschung könnte den Blick auf das Leben verzerren, das mal schwarz eingefärbt erscheint, als sei es völlig sinnlos, wie bei Liebeskummer, und mal rosa, voller Sinn, wie in der Liebeseuphorie. Wie ist das Leben wirklich? Das ist nicht klar, aber alles spricht dafür, dass es nie nur das ist, was es aktuell zu sein scheint. Immer sind noch andere Perspektiven möglich, und keine kann die Fülle der Möglichkeiten erschöpfen. Auf die momentane Sichtweise eine so weit reichende Wahl zu gründen, ist möglich, aber nicht ratsam.
Und was wäre, wenn die Entscheidung hinterher bereut werden würde? Das erscheint undenkbar, aber wer könnte definitiv ausschließen, dass es ein Danach gibt, das von Reue getrübt sein könnte? Immerhin zeigt die Erfahrung vieler, denen der Freitod als einzig mögliche Lösung erschien und die durch die Situation hindurchgegangen sind, dass sie im Rückblick ihr Verhalten für kurzschlüssig halten und froh darüber sind, nicht die letzten Konsequenzen gezogen zu haben oder im letzten Moment davor bewahrt worden zu sein.
So perspektivisch wie die Erfahrung von Sinn erscheint auch die der Sinnlosigkeit. Nichts im Leben und in der Welt hat irgendwelchen Sinn? Aber niemand hat den vollständigen Überblick über Leben und Welt, um das mit letzter Gewissheit sagen zu können. Darauf eine ultimative Wahl zu gründen, birgt den Charakter von Willkür in sich, darüber kann eine momentane oder anhaltendeAusweglosigkeit nicht hinwegtäuschen. Weniger willkürlich erscheint ein Freitod letztlich nur bei einer zweifelsfreien Unausweichlichkeit, eigentlich nur dann, wenn ein Mensch einer unheilbaren Krankheit oder unerträglichem Terror ausgesetzt ist. Und auch dann nicht spontan, nur nach reiflicher Überlegung.
Es kann sich um einen aktiven Akt handeln, selbst dann, wenn eine passive Sterbehilfe in Anspruch genommen wird, wie sie Sterbehilfe-Organisationen anbieten, die lediglich die Hilfsmittel zur Verfügung stellen. Aber es kann auch ein passiver Akt vollzogen werden, wie ihn der norwegische Abenteurer Thor Heyerdahl 2002 im Alter von 87 Jahren praktizierte: Er nahm keine Nahrung, keine Flüssigkeit, keine Medikamente mehr zu sich, nachdem bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert worden war, und er starb auf diese Weise in kurzer Zeit in seinem Haus in Italien.
Passiv ist die Selbsttötung auch dann, wenn aktive Sterbehilfe in Anspruch genommen wird. Aber diese Wahl, die ein Mensch trifft, ohne sie selbst vollziehen zu können, sodass er einer aktiven Beihilfe bedarf, bringt Probleme eigener Art mit sich. Unweigerlich zieht sie Andere in die Verantwortung und bedarf daher aus Gründen der Vorsicht und Rücksicht gesetzlicher Regelungen. Denn wie ist im Einzelfall zu unterscheiden, ob der Todeswunsch wirklich der Wille eines Menschen ist und nicht der Wunsch eines Angehörigen, mit dessen Sterben möglichst bald zu erben und die Pflegekosten einzusparen? Aktive Sterbehilfe leistet auch die Mafia, die aus guten Gründen darauf verzichtet, ihre Kandidaten ausreichend vorweg zu befragen. Daher sind Regelungen sinnvoll, wie sie in den Niederlanden seit langem praktiziert werden: Der Sterbewunsch muss »wohlüberlegt« sein und wiederholt bekräftigt werden, um sicherzustellen, dass es sich nicht nur um eine momentane Gefühlsaufwallung handelt. Ärzte müssen unabhängig voneinander bestätigen, dass der Sterbewillige unheilbar krank ist und seinen Entschluss nicht mehr selbst in die Tat umsetzen kann. Dann erst darf die aktive Sterbehilfe von einem Arzt, nicht von irgendjemandem sonst, vollzogen werden.
Sinnvolle Kriterien für die zu treffende Wahl sindjedoch zuallererst zwei eigene Rücksichtnahmen. Die Rücksicht auf sich selbst führt zur Frage: Ist es fair gegenüber dem eigenen Selbst, ihm solche Gewalt anzutun, insbesondere gegenüber denjenigen Seiten in ihm, die anderer Meinung sind? Und die Rücksicht auf Andere zieht die Fragen nach sich: Ist genügend bedacht worden, was der eigene Schritt für Andere bedeutet, die dem Selbst wichtig sind? Könnten sie durch den Tod des Selbst seelisch oder materiell in eine üble Lage geraten? Es sei denn, dass gerade dies die Absicht ist: Anderen Schwierigkeiten zu hinterlassen, sie für lange Zeit zu zeichnen und zur endlosen Deutung des vollzogenen Todes zu nötigen. Denn vor allem
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