Unglücklich sein (German Edition)
Zusammenbruch zu entgehen, rennen sie wie besessen dem Glück hinterher, daher dessen stetige Beschwörung. So entsteht ein weiterer Stress, der Glücksstress . Die Menschen sindbereit, alles für ihr Glück zu tun, ohne zu bemerken, wie gerade dies sie alle Kräfte kostet. Dieses Glück atmet nicht, es ist kein Glück der Fülle, die Erschöpfung wird so nicht verhindert, sondern erst recht befördert. Das verbissene Streben nach dem Positiven, nach dem Glück in diesem Sinne kann Menschen in den Burnout treiben.
Sich unglücklich zu fühlen, könnte hingegen ein Anlass für Besinnung , also für die rechtzeitige Frage nach Sinn sein. Was hat es angesichts dessen zu bedeuten, dass das Unglücklichsein selbst als eine Art von Krankheit angesehen wird? Wer ist hier in Wahrheit krank? Warum soll ein Mensch alles dafür tun, um schleunigst wieder »aus dem Tief herauszukommen«, auch mit Hilfe rasch wirkender Medikamente? Warum muss er, wenn es ihm schlecht geht, alles unternehmen, damit es ihm schnellstmöglich »wieder besser geht«? Soll er nicht nachdenken, sich nicht neu orientieren, nicht danach fragen, was falsch läuft in seinem Leben, in seiner Umgebung, in der Gesellschaft und wie er selbst sich um das Richtige bemühen kann, sobald er wieder zu Kräften kommt?
Sowohl mit dem Zustand der Melancholie als auch mit der Krankheit der Depression gehen nicht selten Suizidgedanken einher. Mit dem Unterschied, dass Melancholiker mit dem Gedanken eher nur spielen, endlos lange darüber nachdenken und am Austausch von Argumenten dafür und dagegen interessiert sind. Bei krankhaft depressiven Menschen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie nicht spielen und kein Interesse an Argumenten zeigen, vielmehr irgendwann tödlich entschlossen sind, den letzten Akt in jedem Fall zu vollziehen.
7. Leben am Rande des Abgrunds
Derjenige, der sich mit Suizidgedanken trägt, kann jegliches Gespräch darüber verweigern, das ist sein gutes Recht. Aber es kommt auf den Versuch an. Die volle Akzeptanz seiner Situation von Seiten dessen, der mit ihm sprechen will, ist die beste Grundlage dafür. Überall sieht der depressive Mensch Anlass zu großen Sorgen, seine ganze Aufmerksamkeit gilt den allgegenwärtigen Schwierigkeiten, alles ist sehr bedenklich. Die Welt und die Menschen sind voller Widersprüche, und er leidet darunter, dass alles menschliche Streben daran nichts ändern kann. Es ist nicht gut möglich, sein Leben zu führen, wenn nur noch Vergeblichkeit zu sehen ist. Es ist nicht motivierend, auch nur einen Schritt zu wagen, wenn der Boden überall brüchig ist und sich auf Schritt und Tritt Abgründe auftun. Was bleibt, ist Verzweiflung.
Die Frage von Leben und Tod gilt es offensiv aufzunehmen, statt sie, ohnehin unwirksam, mit Verboten und Tabuisierungen abzuweisen. Ja, grundsätzlich ist es eine Möglichkeit, das Leben zu verlassen, und es handelt sich bei einer Selbsttötung nicht mehr, wie einst, um einen »Mord«. Es fehlt zwar nicht an Vorsatz, aber an niedrigen Motiven und Heimtücke, niemand kann hinterher verklagt und verurteilt werden. Der Mensch ist nun mal das Lebewesen, das das Leben auch verweigern kann. Ein Zwang zum Leben, eine Verpflichtung, leben zu müssen, ist nicht erkennbar. Der Tod aufgrund eigener Wahl ist eine Option der Lebenskunst, das sah schon Seneca im 1. Jahrhundert n. Chr. im 70. seiner Briefe an Lucilius über Ethik so.
Entscheidende Fragen lassen sich grundsätzlich auch denen stellen, die leben wollen: Wissen sie wirklich, was sie tun? Haben sie es sich gut überlegt? Haben sie, frei von allen Zwängen, eine bewusste Wahl getroffen? Handelt es sich beim Leben tatsächlich ganz von selbst um einen »Wert an sich«? Die existenzielle Entscheidung, ihm einen solchen Wert zuzumessen, wird glaubwürdiger, wenn sie vor dem Hintergrund einer möglichen Abwahl des Lebens getroffen wird. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Tod gewinnt das Leben Sinn und Wert, sodass es gerade die Frage des Todes ist, die entschieden zum Leben führt. Wird das Leben ohne eine solche Entscheidung einfach nur dahingelebt, bleibt es unbestimmt, oberflächlich, gleichgültig und wird nicht wirklich angeeignet. Ist dieses Denken gefährlich? Zweifellos birgt schon der bloße Gedanke an Selbsttötung die Gefahr in sich, diesen Weg im Zweifelsfall auch zu beschreiten. Aber das Leben ist ohne Gefahren wie diese nicht zu haben.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die entscheidenden Fragen zur Selbsttötung
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