Unheil
vorausgesetzt, er ging mit der notwendigen Umsicht zu Werk. Die Abhänge der Spalte steckten voller Gesteins- brocken und altem Wurzelwerk. Das Problem war, hinüber- zukommen, ohne Zeit zu verlieren.
Ein neuer Gedanke ging ihm durch den Kopf: wie, wenn die Spalte sich von selbst schlösse? Die Vorstellung, wie in einem riesenhaften Nußknacker zerquetscht zu werden, spornte ihn zur Eile an.
Der Wagen mußte ihm als Brücke dienen. Zwei Schritte, und er würde auf der anderen Seite sein. Es war gefährlich, aber die einzige Möglichkeit, hinüberzukommen. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die Heckscheibe des Wagens und verlagerte langsam sein Gewicht. Der Wagen hielt. Ohne die Wand auf seiner Seite loszulassen, setzte er den zweiten Fuß nach, und seine Notbrücke hielt noch immer. Das Dach fiel steil neben ihm ab, und der Gedanke, auf der glatten Oberfläche abzurutschen, schreckte ihn. Bevor er weiter darüber nachdenken und unschlüssig werden konnte, sprang er los und überwand den Abgrund mit zwei Sätzen.
Aber beim zweiten Schritt gab der Wagen unter ihm nach, rutschte abwärts und nahm Holman mit. Verzweifelt suchte er sich an die Steilwand vor ihm zu klammern und bekam im Sturz eine tote Baumwurzel zu fassen. Sie knackte und brach, aber ihre zähen Fasern hielten sie beisammen und bremsten seinen Fall.
Das Kind, durch den fallenden Wagen aufmerksam geworden, kreischte, als es den Mann an der Steilwand hängen sah. Rinnsale lockerer Erde rieselten unter seinen Füßen über die Kante und in die gähnende Tiefe. Die Kleine drückte sich schluchzend an die Erdwand und rief nach ihrem verlorenen Bruder.
Holman hing an der zerfaserten Wurzel und versuchte mit den Fußspitzen Tritte in die lehmige Erdwand zu stoßen. Als ihm das gelungen war, konnte er mit einer Hand einen fest im Erdreich verankerten Felsen fassen und sein Gewicht von der Wurzel verlagern. Während er nach Luft schnappte, hielt er nach dem kleinen Mädchen Ausschau.
»Es ist schon gut«, rief er ihm zu. »Halt dich ganz ruhig, bis ich bei dir bin!«
Er wußte nicht, ob sie ihn hörte oder nicht, aber es war klar, daß sie sich auf dem abschüssigen Sims nicht mehr lange würde halten können, und die Erkenntnis trieb ihn weiter. Er kletterte schräg aufwärts, jeden Griff und jeden Tritt vorsichtig prüfend, und allmählich kam er so bis auf drei Meter an sie heran. Er wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war; es mochten Stunden vergangen sein, wahrscheinlich aber nur Minuten. Sicherlich würde bald Hilfe kommen, jemand würde nachsehen, ob in der Spalte Überlebende gefangen waren.
Ein schmaler Riß führte von seinem Stammplatz durch die Steilwand bis zu einer Stelle eineinhalb Meter unter dem Sims, auf dem das Mädchen kauerte. Wenn er mit den Füßen hineinstieg und mit den Händen oberhalb Griffe suchte, sollte es möglich sein, den Sims und das Mädchen zu erreichen. Ihr kleiner Körper wurde noch immer vom Schluchzen geschüttelt, aber sie blickte nicht auf.
Behutsam begann er sich weiterzutasten, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. Als er näherkam, hob die Kleine den Kopf und sah ihn mit einem Ausdruck nackten Entsetzens an. Gott, wie mußte er aussehen? Nach allem, was sie durchgemacht hatte, wurde ihr nun der Anblick dieser mit Schmutz und Staub bedeckten Gestalt zugemutet, die sich mit weit aufgerissenen, starren Augen an sie heran- schob.
»Es ist schon gut, es ist schon gut«, sagte er beschwichtigend. »Ich komme und helfe dir. Bleib, wo du bist.«
Das Mädchen wich zurück.
»Nein, nein, nicht bewegen!« rief er ihr zu.
Sie begann abzurutschen, erkannte die Gefahr und krallte sich, winselnd vor Angst, in die weiche Erde.
Holman riskierte alles und zog sich, einen Fuß noch im Riß, mit beiden Händen auf den Sims, ohne vorher dessen Festigkeit zu prüfen. Während das andere Bein im leeren Raum baumelte, streckte er sich und bekam mit einer Hand einen Felsvorsprung zu fassen, zog die Beine nach und konnte mit der freien Hand den ausgestreckten Arm des Mädchens ergreifen. Sie schrie vor Angst laut auf, denn durch die Bewegung hatten ihre Füße jeden Halt verloren und zappelten in der leeren Luft.
Holman hielt sie mit einer Hand, die andere am Felsvorsprung, und konnte nichts weiter tun. Er blickte in das ängstliche Kindergesicht und versuchte, in freundlichem Ton und ohne Panik zu sagen, sie solle still sein und sich nicht bewegen. Langsam ließ ihr Zappeln nach, und ihr kleiner Körper erschlaffte, als
Weitere Kostenlose Bücher