Unmoralisch
wir Rachel gesehen haben, ist sie auf dem Geländer rumgeturnt. Also sind wir hoch auf die Brücke, um sie da runterzuholen.«
»Und dann?«, fragte Stride.
Kevin deutete hinüber zum anderen Ende der Brücke, zu der Halbinsel, die sich dort wie ein schmaler Finger erstreckte, umrahmt vom Lake Superior auf der einen und dem Hafen von Duluth auf der anderen Seite. Stride hatte den größten Teil seines Lebens dort verbracht und den Eisenerzfrachtern zugeschaut, die sich aufs Meer hinauswühlten.
»Dann sind wir zu dritt runter an den Strand gegangen. Wir haben über die Schule geredet.«
»Sie ist eine richtige Schleimerin«, warf Sally ein. »In Psychologie plappert sie die Theorien der Lehrerin über kaputte Familien nach. In Englisch findet sie die Gedichte, die der Lehrer schreibt, ja so wundervoll. Und in Mathe hilft sie nach der Schule beim Korrigieren.«
Stride brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen, und Sally warf trotzig den Kopf in den Nacken. Mit einem Nicken bedeutete er Kevin weiterzureden.
»Dann haben wir eine Schiffssirene gehört«, fuhr Kevin fort. »Rachel hat gesagt, sie will rauf auf die Brücke, während sie hochgezogen wird.«
»Das ist verboten«, sagte Stride.
»Stimmt, aber Rachel kennt den Brückenwärter. Sie war früher mit ihrem Vater oft bei ihm.«
»Mit ihrem Vater? Meinst du Graeme Stoner?«
Kevin schüttelte den Kopf. »Nein, ihren richtigen Vater. Tommy.«
Stride nickte. »Erzähl weiter.«
»Gut, wir sind dann also wieder auf die Brücke, aber Sally wollte nicht mitkommen. Sie ist in Richtung Stadt abgebogen. Ich wollte Rachel nicht allein da rauf lassen, also bin ich bei ihr geblieben. Und da hat sie dann … na ja, da hat sie dann angefangen, mit mir rumzumachen.«
»Sie hat nur mit dir gespielt«, bemerkte Sally spitz.
Kevin zuckte mit den Schultern. Stride sah, wie der Junge den Kragen um seinen bulligen Nacken lockerte, dann fing er seinen Blick auf. Kevin war nicht bereit zu sagen, was genau auf der Brücke passiert war, doch der Gedanke daran machte ihn offensichtlich genauso verlegen, wie er ihn erregte.
»Wir waren nicht lange oben«, fuhr Kevin fort. »Zehn Minuten vielleicht. Als wir wieder runterkamen, war Sally … sie war nicht mehr …«
»Ich bin gegangen«, sagte Sally. »Nach Hause.«
Kevin stotterte ein wenig. »Aber es tut mir doch Leid, Sal.« Er streckte die Hand aus, um ihr übers Haar zu streichen, doch Sally wich ihm aus.
Noch bevor Stride diesen neuen Streit schlichten konnte, meldete sich sein Handy mit einer polyphonen Version von Alan Jacksons »Chattahoochee«. Er fischte es aus der Tasche, sah die Nummer von Maggie Bei auf dem Display und klappte das Handy auf.
»Ja, Mags?«
»Schlechte Nachrichten, Boss. Die Medien haben Wind von der Sache bekommen. Hier wimmelt’s nur so von Reportern.«
Stride verzog das Gesicht. »Mist.« Er entfernte sich ein paar Schritte von den beiden Jugendlichen und hörte, wie Sally leise fauchend auf Kevin einzureden begann, kaum dass er ihnen den Rücken zugedreht hatte. »Ist Bird auch unter den Bluthunden?«, fragte er Maggie.
»Na klar. Er führt die Meute an.«
»Dann rede auf keinen Fall mit ihm. Und lass keinen Reporter in die Nähe der Stoners.«
»Kein Problem, wir haben alles abgeriegelt.«
»Hast du auch gute Neuigkeiten?«
»Die präsentieren das als das zweite Mal«, berichtete Maggie. »Erst Kerry, jetzt Rachel.«
»Das war zu erwarten. Ich habe auch keine Schwäche für Déjà-vus. Ich bin in zwanzig Minuten da, okay?«
Stride klappte das Handy energisch zu. Langsam wurde er ungeduldig. Die Sache lief schon jetzt in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Wenn Rachels Verschwinden von den Medien ausgeschlachtet wurde, hatte das auch Auswirkungen auf die Ermittlungen. Natürlich mussten die Zeitungen und das Fernsehen der Öffentlichkeit das Gesicht des Mädchens präsentieren, aber Stride wollte die Kontrolle behalten und nicht seinerseits kontrolliert werden. Sobald Bird Finch anfing, Fragen zu stellen, war das nicht mehr möglich.
»Erzähl weiter«, drängte er Kevin.
»Sonst war nicht mehr viel«, sagte Kevin. »Rachel hat gesagt, sie ist müde und will nach Hause. Also hab ich sie zu ihrem Blutkäfer gebracht.«
»Wohin?«, fragte Stride.
»Ach so, Entschuldigung. Rachels Wagen, ein VW Beetle. Sie sagt immer ›Blutkäfer‹ dazu.«
»Und warum?«
Kevin machte ein ratloses Gesicht. »Wahrscheinlich, weil er rot ist.«
»Na gut. Und du hast gesehen, wie sie
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