Unmoralisch
konnte, trotzdem spürte er ihren Blick. Er kannte sie so gut, diese eindringlichen grünen Augen, unergründliche Meere, in denen er ertrinken wollte. Sie kam direkt auf ihn zu.
Er wusste, was er tun sollte: im Wagen bleiben, warten, bis sie zu ihm kam. Aber der Schmerz in seinem Herzen war zu viel für ihn. Rasch blickte er die Straße hinauf und hinunter, um sicherzugehen, dass keine Gefahr bestand. Dann öffnete er die Autotür und rief sie, die Stimme kaum mehr als ein Flüstern: »Rachel.«
Jetzt, viele Kilometer entfernt, rannte sie, versuchte, ihm zu entkommen. Er streckte die Hand aus, griff nach ihrem Pulli. Er bekam ein Stück Rollkragen zu fassen, aber sie schlug seine Hand weg. Er rutschte aus und versuchte, sie wieder am Handgelenk zu packen, doch seine behandschuhte Hand erwischte nur das Armband. Sie riss sich los, das Armband fiel zu Boden, und sie verschwand zwischen den hohen Büschen.
Er rannte ihr nach, war kaum zwei Schritte hinter ihr. Doch Rachel war wie eine Gazelle, flink und anmutig. Er kam sich tollpatschig vor, die großen Schuhe und die lästige Umklammerung durch Matsch und Unterholz hemmten ihn. Sie baute ihren Vorsprung aus. Er rief sie beim Namen, flehte sie an, stehen zu bleiben, und jetzt hatte sie ihn offenbar gehört. Vielleicht war sie auch auf dem unebenen Boden ins Stolpern geraten. Als er blindlings die Hände ausstreckte, krallten sie sich in das weiche Fleisch ihres Armes. Er hielt sie fest umklammert und drehte sie zu sich herum. Sie prallten gegeneinander. Er ließ sie nicht mehr los, während sie sich keuchend in seiner Umklammerung wand. Er spürte ihren süßen Atem.
Sie sagte kein Wort.
Er hakte den rechten Fuß um ihren Knöchel, sodass sie nicht mehr entkommen konnte, und drängte sich an sie, bis ihre Hüften sich berührten. Dann zerrte er an ihrem Pulli. Der Stoff bauschte sich zwischen seinen Fingern, und er hob die andere Hand, die mit dem Messer. Mit der Spitze der Klinge durchschnitt er den Stoff, hörte, wie er zerriss und ausfranste. Noch einmal durchschnitt er den Pulli, dann noch einmal, bis er in Fetzen hing. Er ließ die Finger über ihre Haut gleiten, spürte die Wölbungen ihrer Brüste, die sich hoben und senkten wie eine Achterbahn.
Er richtete die Spitze der Klinge auf ihre Brust, dorthin, wo irgendwo tief drinnen das Herz sein musste. Falls sie überhaupt ein Herz hatte. Sie wehrte sich, spielte mit. Ein Todesspiel. Sie wollte, dass er es tat, das wusste er. Er rief sich ins Gedächtnis, dass es nicht um ihn ging. Es ging nur um Rachel.
Er stieß zu. Jetzt endlich gab sie ein Keuchen von sich. Etwas Feuchtes rann über die Klinge. Mehr war nicht nötig – sie waren frei.
Erster Teil
1
Jonathan Stride fühlte sich wie ein Geist im weißen Licht der Scheinwerfer, die die Brücke anstrahlten.
Unter ihm ergoss sich schmutzig braunes Wasser in den Kanal und schwappte in Wellen gegen die Betonmolen, wo die Gischt zweieinhalb Meter hoch spritzte, um dann wieder vom Wellental verschluckt zu werden. Die Wassermassen überschlugen sich förmlich, während sie aus dem aufgewühlten See in das ruhigere, innere Hafenbecken drängten. Am Ende der Molen, wo die Schiffe sich so präzise durch den Kanal fädelten wie Garn durch ein Nadelöhr, leuchteten die rotierenden Lichter zweier Leuchttürme grün und rot auf.
Die Brücke war wie ein Lebewesen. Wenn die Autos in hohem Tempo darüber rasten, war die Luft erfüllt von einer Art heulendem Surren wie von vielen Hornissen. Der wabengemusterte Bürgersteig vibrierte und bebte unter den Füßen. Stride sah nach oben, so wie Rachel es getan haben musste, hinauf zu den Stahlträgern, die sich kreuz und quer übereinander türmten. Das kaum wahrnehmbare Schwanken machte ihn unruhig und verursachte ihm ein leichtes Schwindelgefühl.
Er tat, was er immer tat: Er versuchte, sich in das Opfer hineinzuversetzen, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Rachel war am Freitagabend hier gewesen, allein auf der Brücke. Danach wusste man nichts mehr von ihr.
Stride konzentrierte sich wieder auf die beiden Teenager, die neben ihm standen und in der Kälte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. »Wo genau war sie, als ihr gekommen seid?«, fragte er.
Der Junge, Kevin, zog eine fleischige Hand aus der Jackentasche. Am Ringfinger trug er einen dicken Schulring mit einem Onyx. Er klopfte auf das acht Zentimeter breite, nasse Stahlgeländer. »Genau hier, Lieutenant. Sie ist auf dem Geländer balanciert. Mit
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