Unmoralisch
andere als makellos. Über seine Stirn zog sich ein Netz verräterischer Fältchen. Das schwarze, von grauen Strähnen durchzogene Haar war kurz und verstrubbelt und vorn zu einer wirren Tolle gekämmt. Er war einundvierzig und fühlte sich wie fünfzig.
Stride steuerte seinen verdreckten Ford Bronco über die Schlaglöcher in das alte Nobelviertel gleich neben der Universität, wo Graeme und Emily Stoner wohnten. Er wusste, was ihn dort erwartete. Es war elf Uhr abends, und sonntags um diese Zeit waren die Straßen normalerweise wie ausgestorben. Heute war das anders. Die Blaulichter der Streifenwagen und die grellweißen Lampen der Fernsehteams erhellten die Straße. Nachbarn standen in den Vorgärten in kleinen Grüppchen beisammen und beobachteten tuschelnd das Geschehen. Stride hörte das misstönende Krächzen des Polizeifunks aus den vielen Funkanlagen, wie weißes Rauschen im Hintergrund.
Ein paar uniformierte Beamte hatten das Haus der Stoners abgeriegelt, um Reporter und Schaulustige fern zu halten. Stride hielt neben einem Streifenwagen und parkte den Bronco in zweiter Reihe. Sofort umringten ihn die Reporter und ließen ihm kaum Platz, um die Wagentür zu öffnen. Stride schüttelte den Kopf und versuchte, seine Augen mit der Hand gegen die Blitzlichter der Kameras zu schützen.
»He, Leute, hört auf damit.«
Er drängte sich zwischen den Reportern hindurch. Doch plötzlich baute sich jemand direkt vor ihm auf und gab einem Kameramann ein Zeichen.
»Läuft hier ein Serienmörder frei herum, Stride?« Bird Finchs Stimme war so sanft und tief wie ein Nebelhorn. Sein richtiger Name war Jay Finch, doch in Minnesota kannte man ihn nur als »Bird«. Früher war er ein bekannter Basketballer gewesen, jetzt moderierte er eine reißerische Fernsehtalkshow in Minneapolis.
Obwohl Stride selbst über eins achtzig groß war, musste er den Hals recken, um Bird in das finstere Gesicht zu sehen. Der Mann war ein wahrer Riese, mindestens zwei Meter groß, und sah aus wie aus dem Ei gepellt in seinem dunkelblauen Zweireiher, aus dessen Ärmeln jeweils ein knapper Zentimeter einer weißen Manschette mit einem glitzernden Manschettenknopf hervorschaute. Am Zeigefinger seiner gewaltigen Pranke, die das Mikrofon umklammerte, bemerkte Stride den Siegelring einer Universität.
»Schicker Anzug, Bird«, bemerkte er. »Kommen Sie gerade aus der Oper?«
Er hörte das hämische Kichern der anderen Reporter. Bird starrte ihn aus kohlschwarzen Augen an. Das Scheinwerferlicht spiegelte sich auf seinem kahl rasierten schwarzen Schädel.
»Wir haben es mit einem perversen Wahnsinnigen zu tun, der junge Mädchen von den Straßen unserer Stadt raubt, Lieutenant. Sie haben unseren Mitbürgern schon im letzten Jahr Gerechtigkeit versprochen. Wir warten bis heute darauf. Die Familien dieser Stadt warten.«
»Stehlen Sie jemand anderem die Zeit, wenn Sie für ein öffentliches Amt kandidieren wollen.« Stride löste seine Polizeimarke vom Gürtel seiner Jeans, hielt sie Bird unter die Nase und verdeckte mit der anderen Hand die Linse der Kamera. »Und jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg.«
Bird trat widerwillig ein Stück beiseite. Stride rammte ihn heftig mit der Schulter, als er an ihm vorbeiging. Hinter ihm setzte sich das Geschrei fort. Die Reporter verfolgten ihn bis zum Bürgersteig, bis an die improvisierte Umzäunung aus gelbem Absperrband. Stride bückte sich, zwängte sich unter der Absperrung hindurch und richtete sich dann wieder auf. Er machte dem Polizisten, der ihm am nächsten stand, ein Zeichen, und der Beamte, ein schmächtiger Zweiundzwanzigjähriger mit raspelkurzem rotem Haar, kam eifrig auf ihn zu. »Ja, Lieutenant?«
Stride beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Halten Sie mir bloß diese Arschlöcher vom Leib.«
Der Junge grinste. »Wird gemacht, Sir.«
Stride überquerte Graeme Stoners makellos gepflegten Rasen und winkte dabei Maggie Bei zu. Sie war Senior Sergeant seines Dezernats und gerade dabei, eine Gruppe uniformierter Polizisten mit knappen Anweisungen zu versorgen. Selbst in ihren schweren, schwarzen Stiefeln mit fünf Zentimetern Absatz war Maggie nur knapp über eins fünfzig groß, und zwischen den anderen Beamten wirkte sie noch kleiner. Doch alle gehorchten ihr aufs Wort, wenn sie einen Befehl erteilte.
Das Haus der Stoners lag am Ende eines schmalen Weges, im Schatten einiger Eichen, deren fallende Blätter sich auf dem Boden zu unordentlichen Haufen türmten. Es war ein
Weitere Kostenlose Bücher