Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
in der übermächtigen Welt der Erwachsenen.
Vielleicht ist der Ursprung mancher Sekten gar nicht so fern von diesem kindlichen Gefühl der Ohnmacht. Einem Gefühl, das manche später durch Inszenierungen von Allmacht zu bekämpfen suchen, indem sie zu Tätern werden. In ihren destruktiven Systemen unterwerfen sie abhängige Anhänger demselben Gefühl, unter dem sie früher gelitten haben: unentrinnbar, ohnmächtig ausgeliefert zu sein. So wird aus dem Versuch, etwas Bedrohliches zu bekämpfen, indem man es neu inszeniert, ein Gefängnis für die nächsten Opfer. Auch wenn manche es mit Sicherheit verwechseln.
Sexuelle Gewalt
Sexuelle Misshandlungen sind ein Bestandteil vieler Sekten. Manche der Führer leben eine abweichende Sexualität aus – Paul Schäfer war Päderast, er hatte eine Fixierung auf präpubertäre Jungen von 7 bis 14 Jahren –, und die Führungsclique tolerierte und bediente dieses Verhalten. Der tiefere Grund aber liegt in der destruktiven Macht sexueller Gewalt, die die Persönlichkeit des Opfers zerstören kann. Sexualität, sexuelle Identität sind tief in der Persönlichkeit verwurzelt. Wenn hier Angriffe stattfinden und kein Schutz möglich ist, verschwinden die Grenzen und jedes Gefühl von Sicherheit. Menschen werden beliebig manipulierbar und ausbeutbar.
Parallelwelten
Wer über Sekten und destruktive Kulte schreibt, bekommt es schnell mit einer gespaltenen Wahrnehmung zu tun. Andere Moralsysteme führen zu anderen Wirklichkeiten.
Wolfgang Müller, dessen Leben dieses Buch nachzeichnet, erzählte von den Besuchen des chilenischen Militärdiktators Pinochet. Bei seiner Übernachtung dort, so Wolfgang, seien Pinochet und dessen Ehefrau Lucía Hiriart Rodríguez heimlich beim Sex auf Tonkassetten aufgenommen worden. Warum das? Die Antwort: um ihn erpressen zu können. Ich wunderte mich: Wie kann man jemanden erpressen, der einem vollkommen legalen Vergnügen nachgeht: Sex mit der Gattin? Hat er etwas besonders Perverses gemacht? Die Antwort war verblüffend: Ja, er hatte Sex mit ihr. Und welchen Zweck hätte die Veröffentlichung solcher Dokumente, die doch nur den Aufnehmenden bloßstellen würde? Konnte ich das glauben?
Wolfgang Müller berichtete in konspirativem Ton davon, als ginge es um das größte Verbrechen. Dann kam ich darauf: Für ihn ging es ja um das größte Verbrechen. Sex war in der Colonia Dignidad bei schwerer Strafe verboten. Wolfgang lebte in einer Welt, in der Männer und Frauen nicht einmal Blicke tauschen durften. Geschweige denn Körperflüssigkeiten.
Heranwachsende Jungen durften keine Erektion bekommen. Schon gar nicht beim Anblick von Mädchen. Gleichzeitig aber erlebten diese Jungen, wie sich Paul Schäfer, der tío permanente , der »Daueronkel«, wie er sich gern nennen ließ, ständig an den Jungen um ihn herum sexuell bediente. Bis heute haben die wenigsten den Mut, darüber zu sprechen. Das größte Verbrechen aber: Sex mit dem anderen Geschlecht.
Schäfer ließ alles aufzeichnen, was in den Zimmern gesagt wurde und geschah. Irgendwas Brauchbares ist immer dabei, wird er gedacht haben, und wenn ich es ihnen einfach vorspiele, um sie zu demütigen. Auch Pinochet ließ heimlich aufzeichnen, rechnete aber nicht damit, dass man ihn, General Pinochet, abhörte. Auch Schäfer selbst wurde abgehört: Erwin Fege, ein Kolonist und Elektronikfachmann, installierte Wanzen in Schäfers Schlafzimmer. Die meisten Aufzeichnungen aber fertigte DINA -Chef Manuel Contreras an. Doch Contreras, »der Mamo«, kann derzeit an sein Material nicht heran; er verbüßt eine Gefängnisstrafe von 289 Jahren aus 25 Gerichtsverfahren wegen Entführung, Verschwindenlassen von Menschen und Mord.
Da große Mengen Material aus der Kolonie – 70 000 »Seelsorgeakten« und andere Dokumente sowie Ton- und Filmaufnahmen – immer noch unter Verschluss in Chile lagern, gibt es auf viele Fragen noch keine Antworten.
Mitläufer und die Macht der Umstände
Kein Paul Schäfer dieser Welt kann ein System wie die Colonia Dignidad allein errichten und erhalten. Er braucht viele Helfer. Und viele, die wegschauen.
Dass Helfer und Mitläufer in Diktaturen oft ganz normale Menschen sind, unter anderen Umständen freundliche, hilfsbereite Nachbarn, wissen wir seit Langem. Einige Studien in den Sechziger- und Siebzigerjahren versuchten zu klären, wie der Rückfall des zivilisierten, kultivierten Deutschland in die Barbarei des Hitler-Faschismus mit organisierten Massenmorden möglich war. Die
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